Americana-Sound, der weder eindeutig Folk noch Country zugeordnet werden kann.
"Ode To A Friend" - das erste Album von Old Sea Brigade aus dem Jahr 2019 - war vom Selbstmord des besten Freundes von Ben Cramer beeinflusst. Ben Cramer ist das Gesicht hinter Old Sea Brigade. Der Singer-Songwriter und Multiinstrumentalist stammt aus Atlanta, lebt aber in Nashville und saugt dort alle Spielarten des Americana auf, um zu untersuchen, welche Bestandteile für sein Verständnis von seelenvoller, ergreifend-schöner, geschmeidig ablaufender Musik in Frage kommen und was in seinem Sinne umgewandelt werden sollte.
"Motivational Speaking" möchte Veränderungen im Leben und den Umgang mit der Vergänglichkeit beleuchten. Schwere Kost, könnte man meinen. Aber die Platte strömt bei aller thematischen Belastung eine Wärme, Durchlässigkeit, Gewandtheit und innere Ruhe aus, die sie aus der Masse der Singer-Songwriter-Veröffentlichungen hervorstechen lässt. Ihre Komplexität und Harmonie haben die Lieder gewissermaßen der Corona-Pandemie zu verdanken, denn Ben Cramer hatte das Album eigentlich schon mit Hilfe einiger Freunde fertiggestellt, als der Lockdown die Musiker zu einer Auszeit zwang. Deshalb nahm er sich die Aufnahmen noch einmal vor und kam zu dem Entschluss, dass noch eine Überarbeitung nötig täte. Nicht, um die Musik perfekt erscheinen zu lassen, sie also aufzupolieren, sondern um mit ein wenig Distanz das Beste aus den Kompositionen herauszuholen. "How It Works" setzt sich mit den Mechanismen der Musik-Industrie auseinander, die oft nicht zum Wohle der Musiker eingesetzt werden. Trotzdem ist keine Aggression oder Frustration in diesem Song zu spüren. Im Gegenteil, locker groovend, mit markantem Bass und Schlagzeug-Takt zieht er seine sanften Bahnen und Ben Cramer versorgt das Lied durch seine weiche, liebevolle Stimme mit friedvollen Schwingungen.
"Day By Day" ist laut Aussage des Old Sea Brigade-Chefs der lauteste, chaotischste Song, den er bisher für sich selber geschrieben hat. Dann muss der Musiker wirklich ein sehr ausgeglichener Typ sein. Es gibt zwar einen monoton getakteten Rhythmus und treibende Gitarren, aber alles bleibt trotz dynamischer Steigerung in einem für Rock-Verhältnisse gemäßigtem Rahmen. Für "Salt" gab es eine Ausweitung des Instrumenteneinsatzes, denn es ist der erste Old Sea Brigade-Song mit Banjo. Aber deshalb ist das Lied nicht zu einem Hinterwäldler-Folk geworden, sondern wird als romantischer Pop-Song mit eigentümlicher Begleitung wahrgenommen, die aus akustischen und elektronischen Elementen besteht. Und das Banjo ist in diesem Zusammenhang kaum als solches zu erkennen. Die Ballade "Nothing Clever" macht kurze Abstecher in Jazz-Gefilde, ist aber im Kern ein Barock-Folk mit Art-Pop-Kern. Sehr ausgewogen und behutsam verbindet Ben Cramer die verschiedenen Einflüsse miteinander.
"American Impressions" lässt sich als elegant flimmernder Folk-Rock mit ausdrucksstarken Folk-Jazz-Ambitionen definieren. Oder als lockerer Soft-Rock mit Soul-Groove. Alle diese Zuordnungen macht das offen gestimmte Stil-Fusions-System von Old Sea Brigade möglich, ohne störende Nahtstellen aufzuweisen. Auch "Caroline" ist milde gestimmt und bevorzugt eine einfache, von Gitarre, Bass und Schlagzeug bestimmte Roots-Rock-Struktur, die den Song eher wie eine spontane Übungsraum-Aufnahme und nicht wie eine ausgeklügelte, aufwändig überarbeitete Song-Idee erscheinen lässt. "Mirror Moon" vermittelt zunächst einen unspektakulären Eindruck: Der Rhythmus läuft gleichförmig im Vordergrund ab, die Gitarren knurren dagegen im Hintergrund vor sich hin und der Gesang möchte sich nicht unbedingt dominant in Szene setzen. Die Melodie plätschert scheinbar unaufgeregt dahin, zieht die Zuhörer jedoch trotzdem auf unaufdringliche Weise in ihren Bann.
"High Times" ist ein knackig-cooler Folk-Rocker, der anders arrangiert auch als moderner Electro-Pop durch gehen würde und eine ganz andere Klientel ansprechen könnte. So erfreut er alle Fans von z.B. Tom Petty, den Rolling Stones oder R.E.M. an dem unkomplizierten, angenehmen Sound. Eine bedächtige Drum-Machine bestimmt das schleppende Tempo von "Walls". Der Song erhält zwischendurch eine Keyboard-Begleitung, die ihn wie eine aufgeplusterte Komposition von Vangelis klingen lässt, obwohl es sich sonst um eine melancholische Alternative-Rock-Nummer handelt. Durch die sakral anmutende Klang-Umgebung bekommt "Still" ein spirituelles Gospel-Feeling verordnet, das durch frisch durchblutete Drum-Takte und spritzige E-Gitarren-Akkorde in die Realität zurück geholt wird.
"Come Tomorrow" zeigt, wie klare Strukturen reinigend, betörend und anregend zugleich sein können. Der Pop-Folk lässt sich Zeit, seine sympathische Wirkung zu entfalten, protzt nicht mit Effekten und Spielereien, sondern setzt auf ehrlich empfundene, einfach strukturierte und umgesetzte Werte. Die ergreifende Schönheit des ruhigen Art-Pop-Stückes "4th Of July" erinnert danach an die Elegien von Blue Nile aus Schottland. Die Sprache der Musik ist eben universell und wird von sensiblen Menschen überall auf der Erde verstanden und ähnlich gedeutet.
Die Musik von Old Sea Brigade rückt vom üblichen Americana-Schema ab: Es gibt ein anders zusammengesetztes Instrumentenspektrum und stilistisch ist das Ergebnis weder dem Folk noch dem Country zuzuordnen. Die Songs besitzen eine Feinmotorik, wie sie auch von Hiss Golden Messenger oder The Low Anthem angewendet wird, um die Kreationen besonders sensibel erscheinen zu lassen. Das bewährt sich auch hier und nutzt sich nicht ab, sondern holt auch noch das letzte Quäntchen Empathie aus den Songs heraus. Die Lieder wirken stets aufbauend und tröstend, auch bei gedämpfter Tonlage. Dazu trägt besonders der Gesang von Ben Cramer bei, der alle negativen Schwingungen eliminiert und so auch zur Deeskalation bei schwierigen Themen beiträgt. Das Album soll als Ablenkung vom Chaos in der Welt dienen. Ben Cramer möchte, dass es sich wie eine Reise anfühlt, an dessen Ende man sich erfrischt fühlt. Das kann gut nachvollzogen werden.
Der Kultursender Bremen Zwei wirbt für sein Musikprogramm mit dem Slogan "Lässige Singer- Songwriter und Pop für die Seele". Demnach wäre "Motivational Speaking" genau für diese Radio-Welle zugeschnitten worden.