Die heilige Macht der Stimme: Michelle Willis singt auf "Just One Voice" außerordentlich bezaubernd und präsentiert ausgereifte, stark beeindruckende Songs.
Rückblickend kann festgehalten werden, dass selbstbewusst-talentierte Musikerinnen wie Carole King, Bonnie Raitt, Valerie Carter, Karla Bonhoff, Wendy Waldman oder vor allem Joni Mitchell, die ihre Blütezeit in den 1970er Jahren hatten, die Grundlagen für nachfolgende Künstlerinnen wie Mary Chapin Carpenter, Shawn Colvin, Rosanne Cash, Ntjam Rosie, Lizz Wright, Natalie Prass, Laura Marling und sogar Norah Jones gelegt haben, so dass diese Damen heute ihre Musik traditionsbewusst auf die Errungenschaften dieser Folk-, Country-, Soul- und Jazz-Fusions-Pionierinnen aufbauen können.
Auch die 1986 in Großbritannien geborene, in Kanada aufgewachsene und seit 2016 in New York lebende Sängerin, Komponistin und Keyboarderin Michelle Willis, die einige Zeit in zweiter Reihe unter anderem für David Crosby und in der Becca Stevens Band arbeitete, profitiert von den Großtaten ihrer Idole. Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen haben dazu beigetragen, dass es ihr gelingt, auf dem zweiten Werk "Just One Voice" - nach "See Us Through" aus 2016 - musikalisch reif, ideenreich und bedeutend zu klingen. Die am 8. April 2022 erscheinende Platte ist ein ganz starkes, abwechslungsreiches Singer-Songwriter-Album geworden.
Der Opener "10ths" ist eine meditative Spielerei. Vielleicht hat Michelle Willis die hier vorgestellte Vorgehensweise von ihrem Mentor David Crosby abgeschaut, der solche Traum-Sequenzen schon auf seinem herausragenden ersten Solo-Werk "If I Could Only Remember My Name" aus 1971 unterbrachte ("Tamalpais High (At About 3)", "Song With No Words (Tree With No Leaves)"). Der wortlose Gesang lässt sich treiben, das E-Piano hinterlässt glitzernde Tropfen in der Luft, der Synthesizer zischt leise wie ein undichtes Ventil und die Steel-Guitar verbreitet intensive Spritzer bittersüßer Wehmut. ""10ths" wurde geschrieben, um loszulassen, um zu entspannen", erklärt Willis und meint, dass sich das Stück wie ein Bad in Mitgefühl anhört. Und wie eine akustische Verführung, die sich mutig auf unbekanntes Terrain vorwagt, bleibt zu ergänzen. Wer sich nicht von diesen knapp vier Minuten mit gesegnetem, esoterisch anmutendem Space-Ambient-Jazz abschrecken lässt, den erwartet im Anschluss allerdings ganz andere Musik. Was für ein irritierender Auftakt.
Federnd, leichtfüßig, elegant und mit unwiderstehlich betörendem Gesang ausgestattet, erobert der Smooth-Funk-Rock "Liberty" Herz und Verstand im Sturm. Dass Michael McDonald und David Crosby als prominente Backgroundsänger beteiligt sind, ist schön zu wissen, aber nicht wichtig dafür, dass das Stück Flügel verliehen bekam. Das geschieht schon alleine durch den samtenen, schwerelos gleitenden Sound, in dem die attraktive Stimme von Michelle Willis eine zentrale, lenkende Position einnimmt. Der Track verdeutlicht, dass ein Soft-Rock nicht unbedingt schnulzig sein muss, sondern auch mit ultra-chic und leidenschaftlich-makellos übersetzt werden kann.
Die Folk-Jazz-Ballade "Just One Voice" schmiegt sich warm und sanft an die Gehörgänge an. Ein wohltemperierter Bass, etwas markante Percussion, ein gutmütiges Orgel-Hintergrund-Rauschen und ein dezent flankierendes E-Piano sind die Hauptzutaten bei diesem langsamen Sinnes-Schmeichler, der sich punktuell auch energisch zu Wort meldet.
"Green Grey" verbreitet einen weichen, souligen Südstaaten-Groove, der gewandt und lebhaft, ohne übermütig zu werden, mit unaufdringlicher Konsequenz in die Beine geht. Für Michelle klingt dieser Song wie eine Kombination aus "Something To Talk About" von Bonnie Raitt und "Cecelia" von Simon & Garfunkel.
Das Gospel-basierte "Trigger" enthält ein ergriffen-temperamentvolles Duett mit Taylor Ashton, dem Frontmann der kanadischen Folk-Formation Fish & Bird. Erstaunlicherweise handelt es sich hier um die Übungs-Version des Songs, die solch eine fesselnde Energie besaß, welche später nicht nochmal reproduziert werden konnte.
David Crosby wollte das Lied "Janet" unbedingt selbst aufnehmen, nachdem er es 2016 das erste Mal von Michelle bei den Sessions zu seinem "Lighthouse"-Album hörte und so landete eine Version davon schließlich 2018 auf "Here If You Listen". In dem Lied geht es darum, wie Eifersucht den Charakter vergiften kann. Die schwül-gepflegte Atmosphäre und die cleveren Vitalitäts-Veränderungen erinnern an die Songs vom "The Last Record Album" von Little Feat aus 1975.
"How Come" ist ein Lehrstück darüber, wie wichtig es ist, dass in einer Beziehung die gegenseitigen Erwartungen abgesteckt werden. Es geht darum, dass man sich klar darüber wird, ob man sich in der aktuellen Konstellation wirklich wohl fühlt. Denn im Zweifel siegt der Egoismus über die Duldungsfähigkeit, denn Veränderungen und Anpassungen sind oft schwer auszuhalten. Für diesen ausschweifend-verwinkelten, mit Barock-Flair angereicherten Westcoast-Rock konnte wieder Michael McDonald (Doobie Brothers) für einen Hochglanz-Gesangsbeitrag gewonnen werden.
Es gibt diesen Moment, wo klar wird, dass eine Partnerschaft gescheitert ist. Diese Erkenntnis, die von Leid geprägt ist, soll das verträumte, wortlose, mit gläsern klimpernden Synthesizer-Tönen dekorierte "Think Well" einfangen. Begleitet von sorgsam ausgewählten, geschmackvoll verzierenden Tönen des Schweizer Jazz-Mundharmonika-Spielers Grégoire Maret breitet "‘Til The Weight Lifts" ein Gefühl der Geborgenheit, Ruhe und Zufriedenheit aus. Neben einem den Gesang vorsichtig einrahmenden, einfühlsamen Piano gibt es auch richtig stille Momente, die das Lied tiefsinnig erscheinen lassen, so dass der klare, sanft wehende Gesang seine ganze salbungsvolle Wirkung genüsslich ausbreiten kann.
"On & On" steht für die Empfehlung, unsere sehnlichsten Wünsche rigoros umzusetzen und uns dabei nicht von Zweifeln abbringen zu lassen. Der Lead-Gesang zeigt sich ausgewogen, jubilierend und daneben auch dringlich. Die feingliedrige Instrumentierung passt sich parallel sensibel agierend an die jeweiligen Gefühlsäußerungen an. "Black Night" ist das Ergebnis einer spirituellen Erfahrung. Willis hatte ein kleines Haus im Norden New Yorks gemietet, um den Jahreswechsel von 2018 nach 2019 alleine in der Schönheit der Catskill Mountains zu verbringen. Vorher schrieb sie auf Papierstreifen, was sie in ihrem Leben ändern wollte und als Ballast empfand. Nun verbrannte sie einen Schriftzug nach dem anderen. Das wirkte wie eine Befreiung von Blockaden. Dieses Erlebnis wird hier als psychedelischer Folk verpackt, der durch seine schattenhafte Dynamik in Zusammenhang mit intim-anmutigen Arrangements eine rätselhaft anmutende Stimmung erzeugt.
Wie man lupenreine Perfektion mit einer feinsinnigen Ausdrucksweise in Einklang bringt, dieses Geheimnis hat Michelle Willis für sich gelöst und kann ihre Hörerschaft deshalb mit delikaten, Seele und Hirn streichelnden Songs beglücken. Als Sängerin ist sie herausragend ausdrucksstark, so dass jede Gefühlsregung mühelos authentisch dargestellt werden kann. "Mühelos" scheint sowieso das Schlüsselwort für das gesamte Geschehen zu sein. Obwohl die Songs komplex und raffiniert aufgebaut sind, wirken sie unangestrengt. Das ist die hohe Kunst der Pop-Ästhetik: Intelligent agieren und dabei unkompliziert klingen. Michelle Willis ist mit "Just One Voice" ein außergewöhnlich interessantes Album gelungen, dass sie als Meisterin ihres Fachs ausweist.