Erstaunlich! Jedes Stück auf "A la Sala" beinhaltet eine spezielle Tonfärbung.
Das Trio Khruangbin aus Texas vollbringt trotz nahezu gleicher Instrumentierung durch die Rumpfbesetzung von Laura Lee Ochoa am Bass, dem Schlagzeuger Donald "DJ" Johnson, Jr. und Mark "Marko" Speer an der E-Gitarre ein hohes Maß an Abwechslungsreichtum. Das gelingt, weil aufgrund der unterschiedlichen Gewichtung der wenigen eingesetzten Klangkörper ein vielfältiges Erleben der überwiegend instrumentalen Kompositionen entsteht. Dazu kommt ein gerütteltes Maß an Erfahrung, Vorstellungskraft und Mut, was zusätzlich zur Differenzierung der Stücke beiträgt. Dadurch, dass jeder Track einen originellen Weg verfolgt, benötigt man allerdings ein weites (Selbst)-Verständnis von Musik, um das Album in Gänze einordnen, honorieren und nachvollziehen zu können. Es ist ein Lehrstück für eine universelle Auffassung und Umsetzung von Klangstrukturen jenseits von eingefahrenen Stilgrenzen.
Khruangbin ist thailändisch und bedeutet so viel wie Fluggerät. Der Ausdruck beschreibt genau den Überflieger-Gedanken der Musiker, der ihren Kreationen den Abstand zu gängigen Mustern verschafft, was sie akustisch über den Dingen stehen lässt, weil sie eben nicht an erwartete Abläufe angepasst sind. "’A la Sala' (= zum Zimmer), das habe ich als kleines Mädchen immer in meinem Haus herumgeschrien, um alle im Wohnzimmer zu versammeln; um meine Familie zusammenzubringen", beschreibt Laura Lee Ochoa ihre Gedanken zur Auswahl des Album-Titels. Für das Werk werden liebgewonnene Eindrücke - sozusagen familiär klingende Töne - und individuelle Klangvorstellungen zu einem großen Ganzen vereint. Das führt zu einer Vielfalt von Eindrücken, die alle voneinander abstammen, weil sie gemeinsame Ahnen haben. Die Konstrukte dürfen sich unterschiedlich frei entwickeln, was auch Gegensätze herausbilden kann.
Die vorherrschende Stimmung bei "Fifteen Fifty-Three" ist Gelassenheit bis hin zur Tiefenentspannung. In der Ferne rauscht und fiept es leise. Der Bass eröffnet ruhig und langsam den transparenten Instrumenten-Reigen. Die E-Gitarre steigt entspannt-melodisch mit ein und das Schlagzeug übernimmt nach einem schüchternen Beginn die swingende Führung. Das Trio spielt zwar Muster, die an Jazz und an der Klassik angelehnt sind, aber in dieser losen Form keinem Genre eindeutig zuzuordnen sind. Um Orientierung ringend fällt eine Ähnlichkeit zu manchen Songs des experimentierfreudigen Folk-Jazz-Kollegen Ryley Walker, wie "Funny Thing She Said" aus 2016 ein. Dann kommt noch der romantische Rock von Peter Greens Song "Albatross" in den Sinn, den er 1969 für Fleetwood Mac verfasst hat. Es besteht sogar eine Wahlverwandtschaft zum wortlosen "Warm And Cool" des Television-Frontmannes Tom Verlaine. Diese Assoziationen erweisen sich aber nur als flüchtige Eingebungen ohne wirkliche Substanz - zu eigenwillig und eigenständig ist die freigeistige Khrungbin-Schöpfung.
Die vorherrschende Stimmung bei "May Ninth" ist sonnig und mild. "May Ninth" hilft aber nicht weiter, wenn es darum geht, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, der die Khrungbin-Musik in kurzen Sätzen beschreiben könnte. Die Klänge vollziehen hier einen Schlenker hin zum weichen Dream-Pop, was besonders durch den sensibel-anschmiegsamen Gesang von Laura Lee Ochoa Nahrung erhält.
Die vorherrschende Stimmung bei "Ada Jean" ist geheimnisvoll und spannend. Mark Speers Gitarre erzählt halbseidene Geschichten aus der Sicht eines geläuterten Ex-Kriminellen, könnte man meinen. Dunkle Gassen, flackerndes Neonlicht, zwielichtige Gestalten und verrauchte Kneipen huschen gedanklich durch diese transparente Tonkonstruktion.
Die vorherrschende Stimmung bei "Farolim de Felgueiras" (= Leuchtturm von Felgueiras) ist exotisch und berauschend. Nord-Afrikanische Folklore-Entwürfe schwingen genauso wie psychedelische Rausch-Erfahrungen mit und färben das Stück in zarte, ineinander fließende Pastellfarben.
Die vorherrschende Stimmung bei "Pon Pón" ist aufgeregte Ausgelassenheit. Pon-Pons sind Stoff-Bommel, die in unterschiedlichen Ausprägungen zur Verzierung dienen. Kreativität wird beim Basteln genauso eingefordert wie auch in der Tondichtung: Die E-Gitarre quengelt unruhig, der Bass geht gemächlich seinen eigenen Weg und das Schlagzeug ist um einen sinnlich-begehrenswerten Takt bemüht.
Die vorherrschende Stimmung bei "Todavía Viva" ist verführerisch und lasziv aufgeladen. Wie so viele Songs auf "A la Sala" taugt auch "Todavía Viva" (= immer noch am Leben) zur Untermalung von Dokus oder Reiseberichten, denn es werden sehnsüchtige Erwartungen freigesetzt. Der Song spielt erotische Gefühle gegen klare, markante Akzente aus, sodass sowohl verträumte als auch deutlich verdichtete Passagen ihre Berechtigung erhalten.
Die vorherrschende Stimmung bei "Juegos y Nubes" (= Spiele und Wolken) ist ungefiltertes Fernweh. Rockabilly und Melodic-Rock befruchten und respektieren sich gegenseitig, indem sie eine friedliche Koexistenz führen. Das lässt Aromen entstehen, die von unendlichen Weiten und Freiheit künden.
Die vorherrschende Stimmung bei "Hold Me Up (Thank You)" ist unwiderstehlicher Bewegungsdrang. Souliger Funk kam bisher schon manchmal unterschwellig zum Tragen, hier spielt er eine größere Rolle. Er stellt sich aber nicht breitbeinig in den Weg, sondern sorgt für befreiende Bewegungen in einem nach Körperlichkeit suchenden Track.
Die vorherrschende Stimmung bei "Caja de la Sala" ist spirituelle Einkehr. Mit wenigen filigranen Tönen und einer bedächtigen Ausrichtung erschafft die Band eine Atmosphäre von innerer Einkehr, die unaufgeregt, aber trotzdem intensiv ist.
Die vorherrschende Stimmung bei "Three From Two" ist bewusst gelebter Zweckoptimismus. Klingt "Three From Two" nun aber nach karibischem Urlaubs-Flair oder ist der Track eine Parodie darauf? Khruangbin bleiben stets zweideutig, zwiespältig und ihre Ideen sind deshalb hinsichtlich ihrer Bewertung Auslegungssache. Ernsthaftigkeit und Kitsch liegen nämlich nahe beieinander.
Die vorherrschende Stimmung bei "A Love International" ist fordernde Unnachgiebigkeit. Das Stück scheut sich nicht, mit Nachdruck Tonfolgen so lange zu wiederholen und diese dabei massiv zu steigern, bis sie anfangen zu schmerzen.
Die vorherrschende Stimmung bei "Les Petits Gris" (= die kleinen Grauen) ist eine meditative Verschnörkelung. Es wird ein stoisch aufspielendes Piano ins Spiel gebracht, das sich mit der lückenhaft auftauchenden Gitarre die Aufmerksamkeit teilt. Neben "Caja de la Sala" ist "Les Petits Gris" der ergreifendste Track der Platte.
Es scheint, als wäre das Wort "unspektakulär" für "A la Sala" in bester Absicht zur groben Beschreibung ihrer Kunst erfunden worden. Zumindest, wenn es für "unaufdringlich" oder "zurückhaltend" steht. Der zarte Gesang von Laura Lee Ochoa und die dezent eingeblendeten Umweltgeräusche vermitteln eine wohlwollende, harmonisch geerdete Situation, die den Easy-Listening-Touch unterstützt.
Die Musik versucht jedoch generell, einen Spagat zwischen unauffällig unterhaltsam und unangestrengt anspruchsvoll hinzubekommen, was in den meisten Fällen auch gelingt. Diese Mischung kann aber dazu führen, dass sich die Hörerschaft damit nicht voll identifizieren kann, weil sie es gewohnt ist, Eindeutigkeit vorzufinden. Zwischen den Stühlen fühlt man sich eben nicht unbedingt wohl. "A la Sala" lässt auch Fragen offen: Inwieweit beinhalten die Klänge persiflierende Elemente oder soll etwa bewusst eine alternative Form der Verbindung von Post-Rock und Mainstream-Pop ergründet werden?
Aber genau dieses widersprüchliche Empfinden provoziert das Trio mit ihrem vierten Longplayer, was durchaus Unverständnis hervorrufen kann. Das wäre schade, denn die Klänge transportieren so viel mehr Emotionen, als es blasse Hintergrundmusik vermag. Wir erinnern uns an die Eingangsbemerkung: Der Ausruf "A la Sala" brachte die Familie zusammen. Eine Familie besteht in der Regel aus kontroversen Individuen, die trotzdem durch ihre Verbundenheit eine Einheit bilden können. Auf dieser Basis funktioniert auch diese Musik: Vertrautes und Unerwartetes, Gewöhnliches und Außerordentliches stehen Hand in Hand. Diese Konstellation kann gefallen, kaltlassen oder ärgern. Solche Interessenlagen können eventuell auch innerhalb der Familie auftreten. "A La Sala" schöpft also gefühlsbetont voll aus dem wirklichen Leben.