Ein Mann, eine Haltung und ihre konsequente Umsetzung.
Über die Kraft der Musik ist schon viel geschrieben und philosophiert worden. Manche halten sie für esoterischen Quatsch, für andere ist die Aneinanderreihung von Tönen pures Lebens-Elixier. Die letztgenannte Position nimmt auch der Singer-Songwriter Joshua Radin aus Los Angeles für sich ein: "Ich sehe, wo ich heilen muss, und schreibe Songs darüber. Wie das Führen eines Tagebuchs ist das Songwriting für mich etwas sehr Persönliches. Es ist immer kathartisch, nicht nur zu schreiben, sondern auch auf Tour zu gehen und jeden Abend vor Leuten zu spielen. Bei jedem Projekt erlebe ich, wie sich die verletzlichsten Momente meines Lebens auf andere auswirken."
Der 1974 in Shaker Heights, Ohio, geborene Joshua Radin ist kein Neuling im Musik-Geschäft. Seit 2004 hat er von seinen acht Alben und mehreren Singles mehr als eine Million Exemplare verkauft und über eine Milliarde Streams verzeichnet. Bekannt wurde er durch die Ausstrahlung seines Songs "Winter" in der schräg-genialen Krankenhaus-Serie "Scrubs - Die Anfänger" mit Zach Braff als J.D. (= John Dorian) in der Hauptrolle. Braff ist ein guter Freund von Radin, der seine Musiker-Karriere aus Überzeugung förderte. Joshua bekam sogar einen langfristigen Deal mit dem Label Sony angeboten, aber der Record-Company gefiel sein zweites Werk nicht, weil es keinen offensichtlichen Hit enthielt. Daraufhin kaufte sich der Musiker aus dem Vertrag raus und ging einen eigenen Weg jenseits des großflächigen Marketings. Das nenne ich konsequentes Handeln! Trotz der kommerziellen Verweigerungshaltung verzeichnete der Künstler einen riesigen Erfolg, der ihn jedoch demütig stimmte. Er blieb auf dem Teppich und engagierte sich karitativ. So unterstützt er Organisationen wie Little Kids Rock, die Musikunterricht an öffentlichen US-Schulen ermöglicht und North Shore Animal League America, die sich für Tier-Rettungen- und Adoptionen einsetzt.
Das neue Werk "The Ghost And The Wall", das am 23. Juli 2021 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, sollte eigentlich wie gewohnt in einem Studio entstehen. Aber COVID-19 hatte was dagegen. Was sich zunächst wie ein Ärgernis anfühlte, wurde dann aber zum Glücksfall: Jonathan Wilson, der für seine psychedelischen Klänge bekannte Musiker und anerkannte Produzent von zum Beispiel Father John Misty, Conor Oberst oder Dawes erklärte sich bereit, die Aufnahmen online zu betreuen, wobei die Kompositions-Entwicklung und die Arrangement-Ideen wechselseitig ausgetauscht und überarbeitet wurden. Wilson kümmerte sich dabei um die instrumentelle Ausgestaltung und Radin nahm zuhause die Gesangs-Spuren sowie die akustische Gitarre auf. Innerhalb von einem Monat wurden auf diese Weise 10 Songs fertiggestellt. Die beiden Künstler verstanden sich auf Anhieb und Joshua Radin fand Produktionsbedingungen vor, die ideal für ihn waren. Zum ersten Mal fühlte er sich bei den Einspielungen nicht durch andere Teilnehmer eingeschüchtert, was sich befreiend auf den kreativen Ausdruck seiner Empfindungen auswirkte.
Dennoch ist es so, dass Radin zum ersten Mal Songs herausbringt, die er nicht vorher bei seinem Publikum testen konnte. Es ist also eine sehr persönliche Liedersammlung geworden, die ungefiltert die Innenansicht des Musikers widerspiegelt. Joshua verbrachte die Pandemie alleine und versuchte in dieser Zeit seine Selbstliebe zu stärken, um in besseren Zeiten auch andere Menschen intensiver lieben zu können. Der Titel "The Ghost And The Wall" steht für die Beziehungen, die im Laufe der Jahre zu Geistern geworden sind und die Mauern, die er als Schutz vor Enttäuschung um sich herum aufgebaut hat. Joshua Radin ist ein nachdenklicher Musiker, der romantisch-intime Musik macht. Vergleiche sind da schnell gefunden: Elliott Smith, Damien Rice, Nick Drake, Leonard Cohen und Paul Simon.
Wie findet der Künstler eigentlich seinen Weg und seine Nische bei so übermächtigen Einflüssen? Eindringlichkeit und emotionale Tiefe haben kein Verfallsdatum und viele Gesichter. Von daher ist es irrelevant, ob die Musik an große Namen erinnert, die auf diesem Gebiet schon hervorragendes geleistet haben. Viel wichtiger ist, ob die Kunst authentisch vermittelt wird und die Klänge intensiv berühren.
Los geht es mit einem Abschied: "Goodbye" ist zart und zerbrechlich und wird sozusagen zu Radins persönlichen "Sounds Of Silence". Die Stimme bewegt sich im Flüstermodus und Jonathan Wilson hat die Akustik-Gitarren-Untermalung noch durch gedämpfte, weiche Instrumenten-Beigaben ergänzt, die den Gesang mild unterfüttern, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Alles wird vorsichtig-behutsam angerührt. Textlich kommt Zerrissenheit zur Geltung: Der Protagonist verlässt seine Liebe, obwohl sie ihm gut tat und er sich an ihr aufrichten konnte. Die Unsicherheit und der Freiheitsdrang waren dann doch stärker. Das Prinzip der zurückgelassenen Beziehungs-Geister der Vergangenheit und der übermächtigen Ego-Mauern wird an diesem Beispiel deutlich.
"Fewer Ghosts" ist ein Schlüssel-Song des Albums, weil er erklären soll, warum der Musiker noch nicht für eine romantische Liebe bereit ist: Er muss erst zu sich selbst gefunden haben. Daran hinderte ihn, dass er sich bisher selbst zu oft im Wege stand. Eine wachsende weise Gelassenheit soll dieses Problem beseitigen. Hier setzt die Musik als akustischer Wegweiser an und zeigt ein ausgleichendes, erkenntnisreiches, von entspannter Freundlichkeit gekennzeichnetes Gesicht. Ein gemütlicher Takt führt gemächlich durch den Track, der Synthesizer zirpt im Hintergrund leise und lässt an Zykaden denken. Der Gesang versprüht dazu einen ehrgeizigen Willen zur Veränderung.
Der optimistisch gestimmte Sunshine-Folk-Pop von "Better Life" stellt die Hoffnung in den Mittelpunkt und vertreibt jegliche Melancholie. Das Lied sollte laut beim Fahren im Cabriolet gehört werden, weil es so lebensfroh und beschwingt erscheint! Der Zweifel ist dann wieder bei "Make It Easy" der Vater der Gedanken: "Soll ich bleiben oder gehen - willst du bleiben oder gehen" sind die quälenden Fragen, die dem Lied ihren sorgenvollen Stempel aufdrücken. Joshua tut alles dafür, das Stück hoffnungsvoll klingen zu lassen, aber die bedrückende Schwere der Thematik lässt ihn immer wieder in Wehmut verfallen. Die akustische Gitarre und das Piano bilden zwar eine solide, stärkende Allianz, aber die Orgel lässt bedenkliche Situationen am Horizont erscheinen.
"Es ist schwer, vor dem Schmerz im Innern davonzulaufen", bekennt Radin in "Hey You". Aber trotzdem möchte er so schnell wie möglich fort von seinem Aufenthaltsort und hofft, so seinen Problemen entfliehen zu können. "Manchmal rennt man, um am Leben zu bleiben", heißt seine Parole. Wie wahr, daraus sprechen erlebte oder beobachtete quälende Erfahrungen! Jonathan Wilson untermalt diese Erkenntnisse mit einem souverän groovenden Country-Folk, der weder sentimental, noch aufbrausend ist.
Joshua Radin verkündet uns sein Evangelium. Da ist es nur folgerichtig, dass "I'll Be Your Friend" sakral ausgefallen ist. Mit Hall auf der Stimme und mit Unterstützung von schwermütigen Geigen bietet er seine Hilfe an, ist quasi ein "Heiland", der die Last des anderen mittragen möchte. Dick aufgetragen und pathetisch, aber wirkungsvoll und schön. In "You're My Home" scheint die Hauptfigur die große Liebe gefunden zu haben. Zumindest machen romantisch aufgeladene Versprechungen und Angebote die Runde, die für den Versuch einer Beziehung werben. Der kunstvolle Bluegrass wird durch Klatschen und einem aufwühlenden Refrain zu einem schwungvoll-mitreißenden Country-Pop umgewandelt, wie er manchmal von Mumford & Sons praktiziert wird.
Corona-Panik und die Hoffnung auf bessere Zeiten bestimmen "Not Today". Der Song ist als leichter Folk-Pop angelegt, der unbeschwert daherkommen soll, auch oder grade weil er thematisch Unbehagen erkennen lässt. Bei "Till The Morning" geht es schon wieder ums bleiben oder gehen. Und wieder zerreißt es die handelnde Person beinahe, weil es keine eindeutige Entscheidung zu geben scheint. Das Piano klimpert nervös und erzeugt somit eine gewisse Unruhe. Synthesizer-Ton-Schwaden beschwichtigen, aber die Stimme ist zwischen Vertrauen, Zwiespalt und sinnlicher Verzückung hin und her gerissen. "Next To Me" trägt nochmal den Wunsch nach Harmonie in sich. Hier findet Jonathan Wilson einen würdigen Rahmen, der sowohl seine herausragenden instrumentalen Fähigkeiten beim filigranen Einsatz verschiedener Instrumente betont, gleichzeitig wird aber auch eine Atmosphäre aufgebaut die sowohl luftig, wie auch gedankenvoll ist.
"The Ghost And The Wall" hat den Charakter einer öffentlichen Sitzung beim Psychotherapeuten. Schmerzliche Innenansichten, die sich inhaltlich überschneiden, werden an die Oberfläche gespült und mit Hilfe von intimen Tönen in Szene gesetzt. Aber nicht nur der Künstler kann dadurch seine Seele reinigen, sondern auch die Zuhörerinnen und Zuhörer gewinnen etwas, wenn sie sich der Herausforderung nach Ehrlichkeit gegenüber sich selbst stellen. Der unkonventionelle und erfahrene Musiker, Produzent und Hippie-Sound-Nerd Jonathan Wilson war genau die richtige Wahl, um "The Ghost And The Wall" davor zu bewahren, zu einem jammervollen Selbstmitleids-Album zu werden. Selbstredend sind die melancholischen Töne in der Mehrzahl, aber die Darreichungsform der Songs entscheidet, wie die Botschaft ankommt. Und da hat Wilson für Abwechslung in der Instrumentierung und unterschiedliche Takt-Formen gesorgt, so dass die Gefahr der Gleichförmigkeit gebannt werden konnte. Letztlich transportiert Wilson durch seine sensibel-ausgleichenden Arrangements eine Sehnsucht nach Geborgenheit, die er selbst schon in ähnlicher Form mit der ländlich geprägten Musik seines Albums "Dixie Blur" (2020) und hier besonders beim Track "69 Corvette" eingefangen hatte. Joshua Radin bekam durch die Zusammenarbeit die Möglichkeit, seinen größten Trumpf, nämlich seine innige Feinfühligkeit unverstellt einzubringen und auszuspielen, wobei er vollkommene künstlerische Rückendeckung bekam. Eine klassische Win-Win-Situation also.