Das bunt schillernde Art-Pop-Album "Eat The Worm" ist mit verblüffenden Sound-Eskapaden und etlichen Künstler-Verweisen gespickt.
Eine beliebte Mutprobe unter Kindern ist: Wer traut sich, den Regenwurm zu essen? Jonathan Wilson hat diese Herausforderung wahrscheinlich angenommen. Er traute sich so was, kann man sich zumindest vorstellen. Denn er beweist schon seit langer Zeit künstlerischen Mut. Für sein fünftes Werk "Eat The Worm" hebelt er nämlich mit leichter Hand konventionelle Song-Strukturen ohne Rücksicht auf kommerzielle Gesichtspunkte aus. Dennoch hält er vertraute Töne in der Hinterhand aufrecht. Ein Kunststück und eine wagemutige Angelegenheit, die sich lohnt und durch eine hohe Attraktivität auszahlt.
Manchmal bedarf es eines Erlebnisses, das einen aus der Komfortzone holt und die bisherigen Vorstellungen auf erfrischende Weise durcheinanderbringt. Jonathan Wilson hatte solch eine magische Erfahrung, als er eines Abends zufällig den Track "Warm Rumours" von Jim Pembroke hörte. Ein völlig überdrehtes Vaudeville-Pop-Gebilde mit langer Ansage sowie wilden Dynamik-, Tempo- und Melodie-Varianten. Das hat Wilsons Kreativzentrum frei geblasen und ihn zu unkonventionellen Ideen inspiriert.
Das erste Ergebnis, das sich aus der Arbeit des nächtlichen Improvisierens und der Begegnung mit dem Hirn öffnenden Sound von Jim Pembroke ergab, war "Marzipan". Ein schlurfender, am Ragtime-Jazz angelehnter Rhythmus gibt das gemächliche Tempo vor und Jonathan erzählt von musikalischen Prägungen: Hank Williams, Folk, Country, Jazz - das alles waren Einflüsse, aber eigentlich war der Rock & Roll bei ihm die treibende Kraft. Das Piano romantisiert, Streicher weinen Tränen, die voller Bedauern sind und das Schlagzeug wird vom Besen gestreichelt, wodurch automatisch eine sehnsuchtsvolle Rückblick-Taste gedrückt wird. Wilson vermittelt auf diese Weise Sensibilität, lässt die Komposition auf einer weichen Ebene laufen, baut Effekt-Überraschungen ein und versteht es, eine wohlige Stimmung zu erzeugen, die nicht in Gefühlsduselei versinkt.
Künstlich erzeugte tropfende und hämmernde Töne, daneben Chor-ähnliche Stimmen, die vom zusammenschweißenden Leid der Gesänge von den Baumwollfeldern der USA-Südstaaten oder von römischen Galeeren inspiriert sein könnten, bilden das Empfangs-Komitee für "Bonamossa" und kehren zyklisch wieder. Das ist ein Lied, in dem sporadisch auf den Blues-Musiker Joe Bonamassa Bezug genommen wird. Warum nur gibt es beim Titel mit "Bonamossa" eine andere Schreibweise? Im Hintergrund lässt eine Maultrommel fast durchgängig eine ländliche Atmosphäre entstehen, während Geigen, Orgel und Bass mit erregenden Tönen den Ernst des Lebens symbolisieren. Ein perlendes E-Piano, kurze Jazz-Trommelwirbel und eine E-Gitarre im psychedelischen Pink Floyd-Modus mischen das Stück gegen Ende noch moderat auf. Die verwendeten Elemente passen eigentlich gar nicht zusammen, ergeben aber dennoch aufgrund der kompositorischen Kompetenz von Mr. Wilson einen Sinn.
"Ol' Father Time" bringt dem Art-Pop den Groove bei, wobei barocke Motive neben Space-Sounds bestehen und sogar swingen können. Komplexe Strukturen müssen also nicht unbedingt kopflastig und schwierig zu verstehen sein, jedenfalls sind sie es hier nicht.
Jonathan untermalt die akustische Folk-Ballade "Hollywood Vape" mit blubberndem Synthesizer-Schwirren und wild-orgiastischen Underground-Rock-Attacken. Das Lied übt Gesellschaftskritik und prangert die krassen gesellschaftlichen Gegensätze im "Land Of The Brave And The Free" an: Während manche Menschen in ihrem Van auf der Straße leben müssen, streben Super-Reiche die Kolonialisierung anderer Planeten an. Denen fehlt mindestens der Blick für das Wesentliche, von dem nicht besonders ausgeprägtem Anstand wollen wir gar nicht erst sprechen!
In "The Village Is Dead" wird der Niedergang des Künstlerviertels Greenwich Village in New York beklagt. Und zwar nicht weinerlich, sondern aufrüttelnd-kämpferisch. Die Geigen erzeugen einen Klang-Sturm, das Schlagzeug wühlt sich unermüdlich durch das Geschehen und der Gesang klärt auf. Er verkündet wütend den Tod der Kreativzelle, wo einst originelle Avantgarde-Künstler wie Moondog zu Hause waren und ehrgeizige Folk-Musiker wie Bob Dylan groß wurden.
Brasilianische Rhythmen versprechen bei "Wim Hof" eine Aussicht auf Leichtigkeit und Entspannung. Der Song verharrt jedoch in einer bedächtigen, grau gefärbten Stimmung, die eine weiche Melancholie verbreitet. Wim Hof ist ein niederländischer Extremsportler, der seine Fitness auf eine Mischung aus Eisbaden, Atemtechnik und Meditation zurückführt. Laut Song-Text hat Jonathan mit Wim Hof in einem Tauchbecken abgehangen, das kann aber auch ein Bestandteil eines Rauscherlebnisses sein, welches Wilson mit Daniel Lanois hatte, als sie sich spirituell dem Blues-Musiker Lightnin` Hopkins näherten. Oder das Ganze ist der blühenden Fantasie von Jonathan Wilson entsprungen. Manchmal möchte man die Wahrheit gar nicht wissen... Sie kann nämlich Illusionen zerstören.
Das nachfolgende "Low And Behold" setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: Einem ruhigen, ausgeruhten Folk- und einem bedrohlich brausenden kammermusikalischen Teil. Das hinterlässt den Eindruck, als hätten sich Neil Young und Van Dyke Parks zu einer Session getroffen.
Charlie Parker war ein amerikanischer Saxophonist und Komponist, der entscheidend zur Entwicklung des Bebop beigetragen hat. Dafür brach er Mitte der 1940er Jahre aus den damals populären, aber relativ schlichten Anordnungen des Swing aus und erfand stattdessen abenteuerliche, herausfordernde Ausdrucksformen. Parker taucht beim Stück "Charlie Parker" als Traumsequenz auf, in der Jonathan Scat-Gesang zu Parkers "Lullaby In Rhythm" beisteuert. Auch Kurt Elling und Al Jarreau kamen in dieser Gespinst mit ihren besonderen Sangeskünsten vor. Und wie es bei einem ereignisreichen Traum-Geschehen üblich ist, hat auch dieser Song unterschiedliche Ereignisebenen. Die reichen von ausgeruhten Chanson-Beiträgen über durch Klassik infizierte Zwischenspiele sowie Heavy- und Country-Rock-Aromatisierungen bis hin zu Charlie-Parker-Jazz-Anleihen. Dieses Wirrwarr wurde unter den bewährten Händen ihres Schöpfers zu einer spannenden Pop-Sinfonie veredelt.
"Hey Love" ist danach als Auflockerung ein schlichtes Liebeslied, das Jonathan an seine Frau, die Künstlerin Andres Nahkla (die auch für die Cover-Gestaltung von "Eat The Worm" verantwortlich ist) gerichtet hat. Schlicht bedeutet in diesem Fall aber auf keinen Fall banal, sondern heißt einfach, dass der Song ohne große Verwerfungen, bizarre Abläufe und Ideen-Bombardements auskommt. Schlicht ist in diesem Fall gleichbedeutend mit wohltuend harmonisch und ausgeglichen zu verstehen.
Die Abkürzung "B.F.F." bedeutet "Best Friends Forever". Zu denen gehört aus Sicht von Jonathan für ihn sicherlich nicht John Mayer, denn er fordert seinen Kopf, weil er ihn für einen Betrüger hält. Es ist ja vielleicht nur sein lyrisches Ich, welches diesen Ausspruch wagt. Die Ballade enthält jedenfalls dramatische Züge, mit Tendenz zur Verzweiflung. So ein kalter, nach der Seele greifender Gefühlsausbruch wie bei "A Salty Dog" von Procol Harum ist gemeint. Bauschige Streicher im Kontrast zu hellen Vibrafon-Klängen und sanften Piano-Tönen bilden die eindringlichen Streichel- und Reibungspunkte dieses Liedes, das in einem raffiniert-beseeltem Ton-Taumel badet.
Zärtliche Schönheit hat einen Namen und der lautet "East LA". Diese Ballade, die zunächst nur aus Piano, Bass und Gesang besteht, rührt in seiner Intimität und Verletzlichkeit zu Tränen. Im Verlauf werden weitere Zutaten, wie dezent flirrende Synthesizer-Schwingungen, disziplinierter Duett-Gesang mit sich selbst, gefühlvolle Bläsersätze, die direkt aus "After The Goldrush" von Neil Young stammen könnten, sphärisches Mellotron- und Geigen-Rauschen und wuchtige Trommel-Schläge zugesteuert. Das führt zu einer opulenten Verdrehung von innigen Emotionen.
Das majestätische "Ridin' In A Jag" zeigt sich zum Abschluss unterschwellig dem Country und Folk verbunden, hängt aber mit dem Kopf in den Wolken und legt großen Wert auf ein zaghaft-wehmütig schwingendes Klangbild.
Der 1974 in North Carolina geborene Jonathan Wilson trat 1997 mit seiner schwerblütig dröhnenden Band Muscadine erstmals öffentlich in Erscheinung. Seitdem hat er eine enorme kreative Entwicklung durchlaufen. Er ist nicht nur als Solo-Künstler ständig gereift, sondern hat sich auch als Gitarrenbauer sowie als Produzent, Komponist oder Begleitmusiker von unter anderem Roger Waters, Roy Harper, Dawes, Father John Misty und Sam Burton einen Namen gemacht.
„Ich hab endlich das Gefühl, einen Weg gefunden zu haben, um die Dinge so auszudrücken, wie sie mir vorschweben", bewertet Jonathan Wilson das Ergebnis von "Eat The Worm". Die meisten Instrumente spielt der Tüftler hier selber. Diese Töne sind aber häufig die unaufdringlichen, die sich bescheiden zwischen die auffälligen Noten schummeln. Keyboards, Streicher und Bläser setzen die deutlicheren Duftmarken, bilden die Sound-Highlights und brechen mit den Sound-Erwartungen.
Das Werk ist üppig: Üppig an Einfällen, üppig an Wendungen, üppig an Gefühlsregungen. Den Songs hört man den langen Reifungsprozess an, weil viele Tonspuren vorhanden sind. Denn die Versuchung ist groß, bei genügend Zeit zur Entwicklung immer mehr Ideen unterbringen zu wollen. Dennoch hören sich die Stücke nicht überladen an, weil die Details meistens fein voneinander getrennt wurden, und wenn sie sich dann doch mal überlagern, gibt es keinen Bombast-Einheits-Brei.
"Eat The Worm" ist ein Lehrstück in zwölf Akten (die Vinyl-Version enthält noch den Bonus-Track "Stud Ram"), bei dem demonstriert wird, wie anspruchsvolle Kompositionskunst mit unterhaltsamen Zutaten zusammengebracht werden kann. Intellekt und Instinkt ergänzen sich dabei fabelhaft. Anspruch und Spaßfaktor haben eine ausgewogene Balance gefunden, sodass die Musik noch lange genüsslich nachwirken kann.