Ein gütiges Schicksal ist eine Gnade: John Cale meldet sich mit atmosphärisch starken, dunklen, inspirierenden neuen Songs zurück.
Es ist schon eine kleine Sensation, dass sich John Cale wieder musikalisch zu Wort meldet. Sein letztes akustisches Lebenszeichen mit neuen Songs erschien schließlich bereits 2012 ("Shifty Adventures In Nookie Wood"). Der legendäre Musiker, der sein Handwerk unter anderem bei den Minimal-Art-Künstlern John Cage und LaMonte Young lernte und mit The Velvet Underground Kultstatus erlangte, wurde schließlich im letzten Jahr bereits 80 Jahre alt - da sind andere Künstler längst im Ruhestand.
"Mercy" erscheint am 20. Januar 2023 und setzt stimmungsmäßig in etwa da an, wo "M:FANS" - die elektronische Aufbereitung des Albums "Music For A New Society" - im Jahr 2016 aufgehört hat, ist aber milder und weniger aggressiv ausgerichtet. Von den zwölf neuen Songs kommen nur drei ohne den Einsatz von Synthesizern aus. Die Maschinen sorgen grundsätzlich für ein dunkles, geheimnisvolles sowie rauschhaft-künstlerisches Fundament und John Cale bringt seine erzählerisch markante, sonor und weise klingende Stimme in Ergänzung dazu nicht nur als Transportmittel für Texte, sondern auch als Sound-färbendes Element ein. Zahlreiche Gäste sorgen unterdessen für individuelle Klangfärbungen.
Für den Song "Mercy" trägt die Musikerin Laurel Halo mit ihrem Keyboard-Equipment einiges zu der sakralen Stimmung bei. Die weichen Synthesizer-Wolken mit Echo-Effekt, die entfernt an "I`m Not In Love" von 10cc erinnern, sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es mit einer ernsthaften, wehmütig-schmerzhaften Ballade zu tun hat. Die sieben Minuten Laufzeit sind von langsam klopfenden Rhythmen erfüllt, die sich den Klangraum mit introvertiert sirrenden Tönen teilen, zu denen sich Cale flehend im Vordergrund und leicht verfremdet aus dem Hintergrund zu Wort meldet. So entsteht ein intimer und verträumter Electro-Gospel. Im Text sind eindeutige Bezüge zum Ukraine-Krieg auszumachen ("Wölfe bereiten sich vor. Sie werden mehr Waffen kaufen. Im Schnee und Matsch herumrollen. Lichter explodieren über ihnen."). Aber es gibt auch generelle Empfehlungen, doch Zorn durch Barmherzigkeit zu ersetzen.
Die Rolle des Sound-Designer-Partners übernimmt für "Marilyn Monroe`s Legs (Beauty Elsewhere)" der englische Electronic-Künstler Actress. Erneut gibt es sieben Minuten Laufzeit, die experimentell, sprunghaft-unausgeglichen und mit Effekten gespickt daherkommen. Trotzdem verliert der Song nicht vollends seine Strukturen, sondern ringt stets darum, eine Melodielinie aufzubauen, was aber an üblichen Hit-Gesichtspunkten gemessen nicht gelingt.
Akustische Instrumente wie Schlagzeug und jede Menge Streichinstrumente runden die vordergründig von technischen Geräten erzeugten Töne bei "Noise Of You" polternd und aufbrausend ab. Die Keyboards wallen, schwingen und säuseln, so dass sich eine Bündelung aus stimulierenden und beruhigenden Klängen ergibt. Es geht inhaltlich um die Spuren, die eine geliebte, verstorbene Person hinterlässt. Auch wenn sie gegangen ist, hallen die von ihr erzeugten Stimmungen, die sich eingeprägt haben, lange nach.
"Story Of Blood" ist unter gesanglicher Beteiligung der von Cale sehr geschätzten Musikerin Weyes Blood entstanden. Ein einsam-trauriges Bar-Piano leitet den Song ein, zirpende Geräusche begleiten die nächtlich geprägte Atmosphäre. Das dauert so lange, bis mächtige Bass-Beats und fiepende Synthesizer die Luft zerreißen. John klingt zunächst, als ob er aus einem Exil heraus heimlich seine Botschaften verkündet. Diese Wahrnehmung ändert sich langsam in Richtung eines luxuriös ausgestatteten, gefühlvollen, die Sinne betörenden Broadway-Musicals, ohne dass dabei die künstliche rhythmische Basis außer Acht gelassen wird. Der Reiz liegt bei diesem und einigen anderen Songs im Kontrast zwischen schmeichelnder Tonalität und angedeuteter Zersetzung.
Das amerikanische Synthie-Pop-Duo Sylvan Esso unterstützt bei "Time Stands Still" mit einer feinen femininen Background-Stimme und einer allerdings nicht wahrnehmbaren akustischen Gitarre. Im Kern handelt es sich hier um einen wohlklingenden, in sich gekehrten Pop-Song, der ohne die vorherrschenden elektronischen Beigaben auch gut auf das Meisterwerk "Paris 1919" von 1973 gepasst hätte.
"Moonstruck (Nico’s Song)" ist eine Erinnerung an die Andy Warhol-Muse Nico, die als Schauspielerin, Model und Sängerin tätig war. Mit ihren unterkühlt-schattigen, morbide-erotischen Gesangsbeiträgen zum ersten The Velvet Underground-Album und (mindestens) mit ihren ersten vier tottraurigen Solo-Alben machte sie sich unsterblich. "Moonstruck (Nico’s Song)" wird zunächst sanft von energischer Ernsthaftigkeit getragen: Entschieden auftretende Streicher treiben das Stück vorwärts, bevor am Horizont brummende Töne auftauchen, die eine poetische Wendung einläuten. Cale singt lieblich, beinahe verzückt, wie lange nicht mehr. Die raumfüllenden Instrumente erzeugen dazu passend eine märchenhaft-undurchsichtige Aura, die zum Beispiel zu "Alice im Wunderland" passen würde.
Für "Everlasting Days" konnte als Verstärkung das experimentelle Pop-Quintett Animal Collective gewonnen werden, welches eigentümliche Solo- und verstörend-verstärkende Chor-Gesänge sowie munter schäumende und meditative Synthesizer-Linien beisteuert. Der Track hat eine psycho-aktive Wirkung und taumelt zwischen präziser Pflichterfüllung und unbekümmerter Arglosigkeit hin und her.
"Night Crawling" groovt trocken-detailliert und lässt auf diese Weise Licht und Luft in die ansonsten etwas unscharfe Komposition eindringen. So entsteht ein komprimierter Funk-Begriff, wie er auch manchmal von den Talking Heads oder Joan As Police Woman erzeugt wurde. Die in Los Angeles lebende HipHop-Produzentin TOKiMONSTA ist bei dem verängstigten "Not The End Of The World" für die exotischen Effekte zuständig, die nie überladen oder fehl am Platze wirken. Bei dem teils elegant fließenden, teils fromm verweilenden Track verbreiten sie ein Glitzern und Funkeln im Dunkeln.
Die englische Post-Punk-Band Fat White Family gastiert für "The Legal Status Of Ice" als Gesangsverstärkung. Der Song fällt durch seinen beschwörenden, Mantra-mäßigen Gesang und Trommeln, die von indigenen Völkern zu stammen scheinen, auf. Durch dieses Konstrukt erhält das Ganze einen ursprünglichen, spirituellen Anstrich.
Die in Argentinien geborene Sängerin Valerie Teicher, die mit Künstlernamen Tei Shi heißt, begleitet Cale bei "I Know You`re Happy" sehr dezent. Erst gegen Ende des Tracks ist sie manchmal deutlicher zu vernehmen. Die ruhige Pop-Nummer zeigt sich relativ gelöst, hinterlässt aber aufgrund ihres bescheidenen Ausdrucks einen unspektakulären Eindruck, der erst nach ein paar Hördurchgängen seinen Ohrwurm-Charakter offenbart.
Das hell gespielte Stakkato-Piano fungiert beim abschließenden "Out Your Window" als Leuchtfeuer, um vor den unheilschwangeren Chorstimmen und Streichern zu warnen, die wellenartig am Gerüst des Songs zerren. Das führt zu einem intensiven, lebendig-beweglichen Höreindruck.
"Mercy" bedeutet Barmherzigkeit, Erbarmen oder Gnade. Gnade beinhaltet nicht nur Wohlwollen, sondern drückt auch ein gütiges Schicksal aus. Dies kann John Cale mit seinem Leben verbinden und dieser Umstand hat ihn vielleicht zum Titel seines neuen Werkes angeregt. Der dargebotene Art-Pop ist anspruchsvoll, aber nicht kompliziert. Es gibt zwar mehr Moll- als Dur-Töne, aber die Stimmung ist auch aufgrund des souveränen Gesangs nicht depressiv. Sämtliche Gäste auf "Mercy" zeigen Zurückhaltung und Respekt gegenüber der Legende, die nicht nur singt, sondern auch Keyboards, Synthesizer, Gitarre, Bass und Schlagzeug spielt. "Mercy" zeigt die ganze Klasse von John Cale und gehört innerhalb seines Repertoires zu seinen überzeugendsten Alben, denn "Mercy" ist ein vollmundig und komplex klingendes, intelligent durchdachtes und strukturiertes Kunst-Werk geworden!