Pop-Musik im Zeichen von Erkenntnissuche: J.E. Sunde betreibt mit "Alice, Gloria And Jon" Seelenhygiene.
Jon Edward Sunde ist nicht etwa ein Neuling im Zirkus der Pop-Musik. Zusammen mit seinem Bruder Jason und dem Sänger und Perkussionisten Jesse Edgington gründete Jon bereits 2004 die Soft-Psychedelic-Band The Daredevil Christopher Wright, die 2012 ihre bisher letzte Platte "The Nature Of Things" herausbrachte. Seit 2014 veröffentlicht J.E. Solo-Aufnahmen und "Alice, Gloria And Jon" ist jetzt schon sein fünftes Album unter eigenem Namen.
Jon Edward stammt aus Wisconsin und lebt in Minneapolis. Er wuchs in einer musikalischen Familie auf, seine Eltern waren Folk-Fans und spielten Gitarre und Klavier. Das erfuhr das Online-Portal "Fifteen Questions" in einem Interview mit dem Künstler. Außerdem verriet er: "Mit 12 Jahren fing ich schließlich an, Gitarre zu spielen und Lieder zu schreiben. Nachdem ich an der Universität Musik mit Schwerpunkt Gesang studiert habe, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass mehr Wissen über Musik (Technik, Theorie usw.) in erster Linie dazu beiträgt, dass man seine Ideen schneller verwirklichen kann, es aber nicht unbedingt notwendig ist. Der kreative Impuls und die Erfahrung geben einem schließlich die Fähigkeit, alles zu schaffen, was man sich vorstellen kann."
J.E. Sunde treiben existenzielle Fragen des Lebens um, die er für sich philosophisch folgendermaßen einordnet: "Das Leben scheint eine ständige Übung in Veränderung zu sein, gefolgt von unserer Anpassung an diesen Wandel, wobei Konfrontationen das ganze Konstrukt ständig durchziehen. Diese Kämpfe sind die Basis, von der ein Großteil unserer tiefgreifenden Entwicklungen ausgeht", vermerkt er unter anderem auf seiner Bandcamp-Seite als inhaltliche Beschreibung von "Alice, Gloria And Jon".
Vor drei Jahren sang er noch "9 Songs About Love". Jetzt geht es darum, damit umzugehen, dass das erwachsen sein eine seltsame und überraschende Angelegenheit ist. Denn das Leben verläuft in der Regel eben nicht so, wie man es erwartet. In der Realität angekommen, macht sich J. E. Gedanken darüber, dass "die meisten Transformationen aus großer Liebe oder großem Leid heraus entstehen, und leider scheint es keine romantische Version des Leids zu geben".
Zehn akustische Versionen seiner von Zweifeln durchzogenen Weltanschauung, bei der er nach Lösungen für die Bewältigung von Schwierigkeiten sucht, hat der Musiker jetzt in kompakten 31 Minuten zusammengetragen: Die Frische und der cool swingende Jazz-Rhythmus im Klangbild von "Stop Caring" steht im Kontrast zum durchwachsenen, um Optimismus bemühten, aber dennoch überwiegend trüb-wehmütigem Gesang. Das sind Reibungspunkte, die sofort stimulierende Reaktionen im Hirn hervorrufen. Die allgemeine Wahrnehmung kennt solche sich gleichzeitig widersprechenden Zustände in der Regel nicht. Meistens sind fröhliche und traurige Momente streng voneinander getrennt. Wenn nicht, nennt man sowas wohl eine bittersüße Stimmung, was beim Essen in etwa der Geschmacksnote "süßsauer" entspricht. Dieses sich nicht auf eine Gefühlslage festlegen wollen ist ein cleverer Schachzug des Pop-Künstlers, um eine individuelle Duftmarke zu hinterlassen. Dabei hilft ihm, dass seine Stimme einige Facetten bereithält: Eine traurige, eine hoffnungsvolle, sogar eine übermütige versteckt sich in seinen fein abgeschichteten Stimmband-Schwingungen. "Stop Caring ist ein ideales Beispiel für die komplexe Strategie, die sich Sunde für die Darstellung seines Problemlösungsverhaltens ausgedacht hat. Er hat dafür drei Verhaltensmuster destilliert, die beim Umgang mit Verzweiflung oder existenzieller Unsicherheit von ihm angewendet werden: Aufgeben oder mehr Geld verdienen oder die Verarbeitung der Probleme durch eine spirituelle Verhaltensstrategie - was er letztlich auch bevorzugt.
Nach diesem emotional schwer zu verdauenden Brocken geht es dann Schlag auf Schlag mit diversen individuell unterschiedlich veranlagten Gefühlsneigungen weiter: Im klanglichen Fahrwasser von Wilcos "Kamera" (von "Yankee Hotel Foxtrot", 2002) wird "Turn The Radio On" fast unmerklich von einem gelassenen Americana-Song zu einem empfindsamen Pop-Ohrwurm übergeleitet. Der Track soll Mut machen und weist darauf hin, dass wir mit den meisten unlösbar scheinenden Herausforderungen gar nicht alleine dastehen, auch wenn es uns so vorkommen mag. Individuelle Kämpfe sind eher die Regel als die Ausnahme, meint Jon Edward zu der Häufigkeitsverteilung von psychischen Dilemmas.
"You Don’t Wanna Leave It Alone" spielt sich im groovenden New Wave-Milieu ab. Das Stück lebt von dem Kontrast zwischen nüchtern erzählendem und freudig frohlockendem Gesang, gepaart mit elektronischen, monotonen Rhythmen und einer filigran eingesetzten Akustik-Gitarre. Der textliche Inhalt dreht sich wieder einmal um den Umgang mit unerfüllten Erwartungen.
Der Barock-Pop von Left Banke hat bei "Glory, Gloria" ebenso Spuren hinterlassen wie der Power-Pop der dB`s. Dieser Stil-Mix bildet die Grundlage für eine Charakterstudie über zwei Menschen, die sich ineinander verliebt haben.
Ein gemütlich-beruhigender Country-Folk-Takt ist eine der Hauptzutaten von "Blind Curve". Dazu werden unter anderem Synthesizer-Töne beigesteuert, die einer Tuba ähneln, was dem Song einen zusätzlichen volkstümlichen Anstrich und durch die synthetische Aneignung von ursprünglich akustischen Signalen eine kuriose Ausrichtung verleiht. Die "Blinde Kurve" steht dabei sinnbildlich für den Lebensweg, den wir nur zu einem geringen Teil einsehen und beeinflussen können.
"Alice" nutzt eine Art von Pop-Funk, um eine tanzbare, aber dennoch seriös wirkende Ausdrucksform eines anspruchsvollen Pop-Songs zu erschaffen. Für Sunde bedeutet diese rhythmisch suggestive Ausrichtung eine Hinwendung hin zum Krautrock.
"God" ist ein einminütiger Folk-Song, der nur zur Akustik-Gitarre vorgetragen und von Jon Edward mit einer seltsamen Betonung vorgetragen wird.
Bei "Home" ist nach ein paar Durchläufen die Luft raus: Was sich zunächst als sensibler Pop darstellt, erweist sich nach einer Weile dann doch als zu leichtgewichtig aufgestellt. Das sorgt dafür, dass sich eine erhöhte Abnutzung bemerkbar macht. Die Idee hinter der Definition von "Heimat" ist hier, dass man zwar physisch der Heimat beraubt werden kann, das Zusammengehörigkeitsgefühl - das auch als Heimat bezeichnet werden kann - wird dadurch aber nicht ausgelöscht.
Beim fantasievollen, instrumentalen "Morning" wird der Gesang schmerzlich vermisst. Den hat es allerdings ursprünglich tatsächlich gegeben. Aber Mr. Sunde war während des Aufnahmeverfahrens der Auffassung, dass von der Gitarrenlinie zu viel verloren gehen würde, wenn sich eine Stimme darüber legt.
Die schwankend-schaukelnde Melodie mancher Robert Wyatt-Stücke, wie z. B. beim "Sea Song", hält Einzug in "Nurse". Die erzeugte zittrige Melancholie wird fürsorglich durch eine stabile, mit wechselndem Tempo ausgestattete, stützende Begleitung stabilisiert. Es geht in dem Stück um jemanden, der mit Dankbarkeit auf eine frühere Beziehung zurückblickt, denn sie tat ihm gut und hat seine Zukunft geprägt.
J.E. Sunde vollbringt mit "Alice, Gloria And Jon" ein vollmundig-vollwertiges, geistreiches Pop-Werk voller Reife und Einfallsreichtum, wie es sonst zum Beispiel nur Paul Simon, Aimee Mann, Elvis Costello, Ron Sexsmith oder Joel Sarakula verwirklichen können. Die fiktiven Charaktere Alice und Gloria dienen dabei als Vehikel für die Beschreibung von Befindlichkeiten, die auch Jon (also J.E. Sunde) betreffen, sodass die Problematiken ohne den Verdacht der übertriebenen Selbstdarstellung verallgemeinert dargestellt werden konnten.
J.E. Sunde verriet "Fifteen Questions" noch sein Verständnis des schöpferischen Prozesses: "Ich denke, Musik zu machen bringt auf alchemistische Weise so viele verschiedene Dinge zusammen. Es kann das Alltägliche und das Transzendente und alles dazwischen auf eine Weise verbinden, die meiner Meinung nach einzigartig ist, weil es auf all diesen verschiedenen Ebenen funktionieren kann (Lyrik, Melodie, Klangfarbe, Instrumentierung, Beziehung zum kulturellen Moment." Die Verbindung von smarter Eleganz, einfühlsam-raffinierten Arrangements und bedeutenden Textinhalten ist dem Musiker jedenfalls mit "Alice, Gloria And Jon" vortrefflich gelungen.