Andy Warhols langer Schatten.
Die 1960er und 1970er Jahre haben zahlreiche herausragende Alben und wegweisende Bands hervorgebracht. Dazu gehören natürlich die Beatles und Rolling Stones, aber auch The Doors, The Byrds, Buffalo Springfield, Van Der Graaf Generator, Little Feat, The Stooges, Steely Dan oder The Band. Nicht zu vergessen The Velvet Underground, die Hausband aus dem The Factory in New York, wo der Pop-Art-Künstler Andy Warhol seine Studios und Ateliers beherbergte.
The Velvet Underground wurde 1964 gegründet und bestand zunächst aus Lou Reed (Gitarre, Gesang), John Cale (Bass, Bratsche, Keyboards, Gesang), Angus MacLise (Schlagzeug, Percussion) und Sterling Morrison (Gitarre). 1965 wurde MacLise gegen Maureen "Moe" Tucker ausgetauscht, die bis 1971 blieb. Außerdem kam auf Wunsch von Warhol noch die als Schauspielerin, Muse und Fotomodell tätige Nico aus dem Warhol-Dunstkreis dazu, die 1938 als Christa Päffgen in Köln zur Welt kam. Ein illustrer Haufen aus ernsthaften Künstlern und Amateuren, die in die Subkultur des "Big Apple" eintauchten und deren unterschiedliche Persönlichkeiten zur Einzigartigkeit der Gruppe beitrug.
So absolvierte Cale ein Klavier- und Bratschen-Studium und arbeitete mit den Avantgardisten John Cage und LaMonte Young zusammen. Lou Reed hatte sich auch schon vor Gründung des Ensembles etabliert: Nach seinem Englisch-Studium arbeitete er nämlich als Songschreiber für Pickwick Records. Der literarisch interessierte Hobby-Musiker setzte sich nebenbei mit experimentellen Klängen auseinander und traf in diesem Zusammenhang zufällig auf Cale. Die Beiden beschlossen, ihre Erfahrungen und Ideen in ein gemeinsames Projekt münden zu lassen. Maureen Tucker brachte sich das Schlagzeug spielen selbst bei und kam nur durch Zufall zu den Velvets, weil sich der Gitarrist Sterling Morrison - ein Kollege von Reed bei Pickwick Records - nach dem Ausstieg von Drummer MacLise an die Schwester seines Kumpels Jim Tucker erinnerte.
Der Bandname The Velvet Underground leitet sich übrigens von dem gleichnamigen Buch von Michael Leigh ab, das vom abseitigem Sexleben der amerikanischen Mittelschicht handelt. Aber nicht nur gesellschaftliche Belange, sondern auch die halbseidene New Yorker Underground-Szene und der Einfluss von Drogen prägten in hohem Maße viele Songs der visionären Musiker. Das Debut-Album "The Velvet Underground & Nico" wurde 1966 aufgenommen und kam 1967 im Frühling vor dem "Summer Of Love" in die Läden. Es erwies sich als der böse Gegenentwurf zur vorherrschenden Love & Peace-Hippie-Kultur. Statt bunter Träume drohten Horror-Trips.
Das Cover der Platte wurde von Andy Warhol gestaltet: Die berühmte Banane, die sich abziehen ließ und unter der Schale rosa war. Das Werk erwies sich trotzdem zunächst als kommerzieller Flop, gilt aber heute zu Recht als eines der einflussreichsten Rock-Alben aller Zeiten, weil es viele Spielarten vorwegnahm. Dazu gehören unter anderem New Wave, Punk-, Glam- oder Noise-Rock.
Den Opener "Sunday Morning" hatte Lou Reed eigentlich für Nico geschrieben. Er übernahm den Lead-Gesang dann aber doch kurzfristig selbst, für sie blieb nur noch etwas Hintergrund-Geträller über. Das Lied war dem Album als letzter Beitrag nachträglich zugewiesen worden, weil sich das ursprüngliche Veröffentlichungsdatum verschob und der Produzent Tom Wilson (Bob Dylan, Simon & Garfunkel, Frank Zappa) unbedingt noch einen Titel für eine erfolgsversprechende Single haben wollte. Alle anderen Songs wurden übrigens von der Band produziert, obwohl auf der Rückseite des Covers "Produced By Andy Warhol" steht. Das war nur ein Marketing-Trick, damit sich die Plattenfirma nicht zu sehr in den Entstehungsprozess einmischte.
"Sunday Morning" ist ein Wolf im Schafspelz, denn musikalisch gibt sich das Lied lieblich und harmonisch, obwohl es inhaltlich von Paranoia handelt. Die Zeile "...es gibt immer jemanden, der Dich beobachtet" könnte eigentlich auch von George Orwells "1984" inspiriert sein und wirkt aus heutiger Sicht sogar prophetisch, denn in der Welt der Smartphones ist man nirgends mehr vor einer Verletzung der Privatsphäre sicher. Der Sound des Stückes wird vordergründig von einem Glocken-Piano bestimmt, das genauso klingt, wie es heißt. Das bedeutet, es erzeugt glockenhelle Töne, die John Cale einspielte und die einen kammermusikalisch-ernsthaften, wie auch unschuldig-frischen Effekt hervorrufen. Die mit Hall versehene Stimme von Reed bildet einen hintergründig beunruhigenden und rätselhaften Kontrast dazu. Generell geht es hier aber gesittet, harmonisch und eingängig zu. Die Interpretation von Michael Stipe (ex-R.E.M.) unterstreicht den ursprünglichen, am klassischen Kunstlied orientierten Ansatz mit einem verweht-romantischen Oboen-Intro und greift die wehmütige Stimmung des Originals solide auf.
"I’m Waiting For The Man" erfährt eine trockene, minimalistische, schroffe, gehetzt-kaputte musikalische Umsetzung und enthält eine radikale Schilderung der Dealer/Konsument-Beziehung mit schmerzhaft-aggressiver Ausrichtung. Matt Berninger von The National bringt nicht die Dringlichkeit der Velvet Underground-Hymne in seine Sicht der Dinge ein, was hoffentlich damit zu tun hat, dass er bezüglich des Konsums von harten Drogen keine Erfahrung gesammelt hat. Seine Fähigkeit, scheinbar nicht zu vereinbarende Gegensätze in Gleichklang zu bringen, wendet er wieder einmal vorbildlich an. Er übersetzt kantige Songstrukturen dergestalt, dass sie emotional intensiv und trotzdem cool klingen.
Nico intoniert das eindringliche Chanson "Femme Fatale" mit einer Stimme, die nicht durch Umfang, sondern durch ihren Charakter besticht. Ein Markenzeichen, dass auch Hildegard Knef, die größte Sängerin ohne Stimme - wie Ella Fitzgerald sie nannte - ausmachte. Nico offenbart sowohl die dunkle Seite der Seele, wie auch eine zurückhaltende sensible Weiblichkeit. Bei ihren Solo-Werken "The Marble Index" (1969) und "Desertshore" (1970) verbreitete sie nach ihrem Ausstieg bei The Velvet Underground eine unfasslich bittere, deprimierende, morbide Hoffnungslosigkeit, die im Pop ihresgleichen sucht. Sharon Van Etten macht in Begleitung von Angel Olsen als Gast-Sängerin aus der Vorlage eine betont langsame, bittersüße, von sanften Streichern durchzogene Late-Night-Jazz-Nummer, die den gesamten Schmerz der Welt auf sich zu vereinen scheint.
Für "Venus In Furs", das von der Sado-Maso Novelle "Venus im Pelz" von Leopold von Sacher-Masoch von 1870 inspiriert ist, lässt John Cale seine Viola beängstigend und schrill heulen und jaulen. Maureen Tucker spielt stoisch die Bass-Drum und fügt etwas Tamburin-Geschepper hinzu. Das ungeschliffene Kratzen der trockenen E-Gitarre wirkt in diesem Mix wie ein ungebetener Gast, der sich frech und besserwisserisch einmischen will. Lou Reed möchte souverän, gar überlegen klingen, gleitet jedoch manchmal gesanglich in Gefilde ab, die Unsicherheit verraten. Andrew Bird & Lucius verwandeln den Track in einen mystischen Gothic-Folk, bei dem Birds Geige den psychedelisch-weltmusikalischen Rahmen spannt und die New Yorker Indie-Pop-Band Lucius für den verwunschen-betörenden Sound zuständig ist.
Mit der Wahl von "Run Run Run" fühlen sich Kurt Vile & The Violators hörbar wohl. Der Ursprung von Reed, Cale & Co. verkörpert hingegen einen bösen Mersey-Beat mit stacheligem Rhythm & Blues-Herz, der nach Gewalt und Ärger riecht. Kurt Vile ist mit seinem psychedelischem Garagen-Rock gar nicht so weit weg von der originalen, gehetzten Power-Pop-Stimmung. Er zündet mit seinem schwungvollen, ungebremsten Glam-Rock-Boogie den Nachbrenner und versprüht dadurch jede Menge Spielfreude in Gedenken an T. Rex um Marc Bolan.
Beim monoton klingelnden Piano-Sound der Folk-Rock-Ballade "All Tomorrow’s Parties" bringt John Cale seine Minimal-Art-Erfahrungen ein. Die Psychedelic-Rock-Gitarre hört sich an, als wäre sie aus "Eight Miles High" von den Byrds ausgeliehen worden. Tucker schlägt einen Takt, wie von einer Sträflings-Galeere und Nico singt selbstbewusst gegen die Erwartungshaltung an, Frauen-Stimmen müssten lieblich, wohlklingend und voluminös sein. Die verfremdeten Gesänge, die bei der Hörspiel-artigen Umsetzung von St. Vincent & Thomas Bartlett auftauchen, lassen zweifellos an Laurie Anderson denken. Vielleicht soll dieser Track auch eine Hommage an die Witwe von Lou Reed darstellen.
"Heroin" ist eine in Noten gegossene Beschreibung des Drogen-Konsums, angesiedelt zwischen Faszination und Abscheu. Der Song wankt zwischen leise und laut sowie harmonisch und chaotisch, trägt versöhnliche und ekstatische Züge. Dieses Verzerrungs-Monster befindet sich bei Thurston Moore (Sonic Youth) und Bobby Gillespie (Primal Scream) in bewährten Noise-Rock-Händen. Bei ähnlichem Song-Aufbau setzen sie auch heftige Feedback-Töne ein, klingen dabei aber nicht so radikal, wie The Velvet Underground.
2018 brachte die New Yorker Künstlerin Mikaela Mullaney Straus, die sich King Princess nennt, eine Version von "Femme Fatale" raus. Auf dieser Zusammenstellung ist sie mit "There She Goes Again" vertreten, das sie als flotten Power-Pop ausdrückt und dabei recht nah am Original bleibt. Der Song wurde bei seiner Erstveröffentlichung als lässig schwingender, das Tempo-variierender Pop-Song gestaltet. Er kam ohne schräge Zutaten oder krachende Wendungen aus. Die einnehmende Oberfläche kaschiert das ernste Thema des Liedes, denn es geht inhaltlich um Prostitution. The Velvet Underground bedienten sich beim markanten Haupt-Gitarrenriff übrigens ungeniert bei Marvin Gayes "Hitch Hike" aus 1962.
Bei den Aufnahmen zu "I’ll Be Your Mirror" verlangte die Band von Nico, sie möge doch zart und introvertiert singen. Nico gab aber bei jeder neuen Aufnahme immer wieder aggressive Töne von sich. Der daraufhin aufkeimende Streit führte zum Nervenzusammenbruch der Sängerin und als Ultimatum wurde ihr noch eine letzte Chance gegeben, die Vorgaben einzulösen. Sie nutzte diese dann für eine perfekte Kulisse. Hätte das nicht geklappt, wäre der Song vielleicht nicht auf dem Album gelandet, zumindest nicht mit Nicos Gesang. So hören wir ein beinahe konventionelles Liebeslied mit einer Stimme, die teils ausdruckslos, teils flehend eine frostige, eigensinnige Ausstrahlung verbreitet. Die Faszination der Reduzierung treibt fragile Blüten. Courtney Barnett begleitet sich bei ihrer Aufbereitung zur akustischen Gitarre und benutzt als Taktgeber helle Schellen. Fun Fact: The Velvet Underground verwenden ein Gitarren-Riff, das an "You Really Got Me" von The Kinks aus 1964 erinnert. Barnett benutzt es auch und bringt somit den Rock & Roll ans Lagerfeuer.
"The Black Angel’s Death Song" besteht aus Cales quietschender Bratsche, einem summenden Bass, einer stumpf schrammelnden E-Gitarre und Reeds Sprechgesang. Ab und zu bläst Cale dann noch ins Mikrophon. So bizarr und gleichförmig, wie sich die Beschreibung anhört, ist das Stück auch - also nichts für schwache Nerven. Die irische Post-Punk-Band Fontaines D.C. ersetzen die Viola durch E-Gitarren-Feedback und baut beharrliche Schlagzeug-Rhythmen ein, versuchen aber auch, eine kompromisslos provozierende Stimmung zu erzeugen. Das Stück gab einen Vorgeschmack darauf, was von The Velvet Underground an Reizüberflutung und Schräglage auf dem Folgealbum "White Light/White Heat" von 1968 noch zu erwarten ist.
Das derbe, nervenaufreibende "European Son" wird häufig übergangen, da es sehr anstrengend anzuhören ist. Dieses wüste, kakophonische Underground-Hillbilly-Stück hat Lou Reed seinem Mentor, dem Schriftsteller Delmore Schwartz, gewidmet und weil der keine Texte in Rockmusik mochte, gibt es nach einer von sieben Minuten keinen Gesang mehr. Das Stück zeigt auf, woher Iggy Pop für seine Stooges manche Anregungen erhalten hat. Dabei brauchte er damals etwa ein halbes Jahr, um von "The Velvet Underground & Nico" vollends überzeugt, ja sogar besessen zu sein. Das zeigt, dass es sich nicht um leichtgängigen Stoff handelt, sondern um Musik, die man sich zum Teil schwer erarbeiten muss. Grade deswegen ist Iggy Pop genau der Richtige, um zu demonstrieren, warum "European Son" für ihn und seine musikalische Entwicklung immens wichtig war. Als Partner hat er den gleichgesinnten Sänger und Gitarristen Matt Sweeney (der unter anderem auch mit Bonnie "Prince" Billy musizierte) an seiner Seite, der diese rasante Höllenfahrt, die von einem unnachgiebig schnellem Bass, spitzen Schreien und Feedback-Salven durchzogen ist, unterstützt.
Die Interpretationen der Velvet-Underground-Klassiker sind stilistisch offen, teils wagemutig, teils ehrfürchtig. Das heißt, manche orientieren sich stark am Original, andere wiederum deuten die Ursprungsfassung neu. Beides ist angemessen und sagt zunächst nichts über die Originalität oder Qualität aus. Eine Inspiration kann schließlich zur würdevollen Nachahmung oder zu abgeleiteten, wegführenden Ideen führen. Wobei ein reines Nachspielen, das so dicht wie möglich am Original sein will, keinerlei künstlerischem Anspruch genügt. Solch eine Reproduktion findet hier allerdings nicht statt, schließlich sind die versammelten Musiker allesamt für ihre Kreativität bekannt, sie haben eben nur unterschiedliche Herangehensweisen und Wahrnehmungen. Was diese Zusammenstellung uneinheitlich, aber auch spannend macht.
Gut, nicht alle Versionen sind leicht verdaulich, aber das ist auch nicht der Anspruch, den man an "The Velvet Underground & Nico" haben konnte und an "I`ll Be Your Mirror" haben sollte. Es handelt sich schließlich um eine Hommage einiger Künstlerinnen- und Künstler, denen das Album sehr viel bedeutet, ihnen die Ohren als Erweckungserlebnis geöffnet oder sie dazu gebracht hat, selbst Musiker (-in) zu werden. In diesem Sinne ist "I'll Be Your Mirror: A Tribute To The Velvet Underground & Nico" als eine Bestandsaufnahme und Widmung an den unerschrockenen Pioniergeist von The Velvet Underground zu sehen und aufgrund seiner Bandbreite auch repräsentativ und gelungen.