Die Gedichte von Mascha Kaléko sorgen immer noch für eine "Zeitgemäße Ansprache" und DOTA belebt sie mit ungekünsteltem Einfühlungsvermögen.
Wenn es darum geht, eine qualitativ hochwertige Verbindung zwischen Pop, Kunstlied und Cabaret mit deutschen Texten zu erschaffen, dann ist DOTA ganz weit vorne bei der entsprechenden Realisierung. Und zwar sowohl musikalisch wie auch textlich.
"In den fernsten der Fernen" ist nun schon das zweite DOTA-Album mit zu Liedern gewordenen Gedanken der Dichterin Mascha Kaléko, die 1907 in Galizien geboren wurde und 1975 in der Schweiz starb. "Mascha Kaléko war DIE Dichterin der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, hatte zu der Zeit auch sehr viel Erfolg. Ihr erster Gedichtband war so ein richtiger Bestseller. Und dann ist sie als Jüdin vor den Nazis geflohen und hat auch im Exil weiterhin viele Texte geschrieben, die dann nicht mehr so bekannt wurden. Was tragisch ist, weil sie auch später noch ganz tolle Gedichte geschrieben hat. Ich finde, sie sollte ihren ganz gleichberechtigten Platz neben Erich Kästner, Tucholsky und Ringelnatz haben und hoffe, dass ich mit dem Album einen kleinen Beitrag dazu leisten kann. Aber es gibt auch viele Menschen, die ihre Gedichte kennen und schätzen. Und ich glaube, wenn man ein paar gelesen hat, dann weiß man auch warum: Weil die Texte so knapp und präzise sind und so gut verdichtet sind. Und so klar und leicht zugänglich sind, aber trotzdem immer viel Tiefe haben," erzählte Dota Kehr am 30. Juni 2023 im moma-Café des ZDF.
Um die Bandbreite des Repertoires von "In den fernsten der Fernen" kennen zu lernen, gibt es hier nun Kurz-Steckbriefe der 23 Lieder: Der psychedelische Kraut-Pop "Das "Mögliche"" enthält die prägnanten, vor Lebensweisheit sprühenden Zeilen: "Ich habe mit Engeln und Teufeln gerungen, genährt von der Flamme, geleitet vom Licht. Und selbst das Unmögliche ist mir gelungen, aber das Mögliche schaffe ich nicht."
Im Sirtaki-Rhythmus wiegen sich die Stimmen von Dota Kehr und Dirk von Lowtzow (Tocotronic) für "In dieser Zeit". Die Gesangslinien grenzen sich klar ab, reiben sich aneinander und verleihen dem Song dadurch eine Aura, die einer schillernden Bedeutungsschwere gleicht.
"Wenn einer fortgeht..." ist eine intime Folk-Ballade geworden, bei der Gisbert zu Knyphausen die einfühlsame Duett-Stimme übernimmt.
Das kindgerechte "Sozusagen grundlos vergnügt" ist sozusagen auf logische Weise optimistisch, weil hier die Wahrnehmung als Sammlung von natürlichen Sinnes-Eindrücken verdichtet wird. Es kommt zur Aussage, dass es keine großen Ereignisse sein müssen, die das Leben lebenswert machen, sondern es reicht die pure Freude an der Existenz inmitten einer pulsierenden Natur.
Für "Sonett in Dur" hat DOTA ein warm tönendes Brass-Pop-Konzept gefunden, das vom Gast-Sänger Clueso stimmig und sympathisch unauffällig begleitet wird.
Mascha Kaléko musste in ihrem Leben mehrmals ihren Lebensraum verlassen: 1938 flüchtete sie vor den Nazis von Berlin aus nach New York und 1959 wanderte sie auf Wunsch ihres zweiten Ehemannes, dem Dirigenten, Komponisten und Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver, nach Israel aus. Der Bewältigung ihrer Heimatverluste gibt sie mit dem voll- und weich-tönenden Art-Pop-Chanson "Die frühen Jahre" eine Bühne: "Zur Heimat erkor ich mir die Liebe" heißt es da, was sich in diesem Zusammenhang wie eine Formel gegen jede Form von Entwurzelung anhört.
Antiquierte Moralvorstellungen und strenge Konventionen prägten noch lange nach dem 2. Weltkrieg den Ablauf von Beziehungen. Beim 1933 veröffentlichten Gedicht "Großstadtliebe" handelt es sich um die Beschreibung einer Liebelei, die sich wegen der Beschränkungen der persönlichen Verhältnisse nicht weiterentwickeln konnte. Die Klänge versprechen zwar eine ausgelassene Beziehungs-Geschichte, die Texte machen aber deutlich, dass das ein Trugschluss ist.
Da kommt was Unheimliches auf einen zu, das suggerieren jedenfalls die Streichinstrumente am Anfang von "Der Fremde". Nach deren Verstummen übernehmen Töne, die von einem medizinischen Überwachungsgerät stammen könnten, die Regie. Die Atmosphäre bleibt bedrohlich und die Streicher holen sich zum Ende hin ihre Vormachtstellung zurück. Es geht in dem Stück thematisch um Ablehnung und Ausgrenzung, vermutlich aufgrund von körperlichen Auffälligkeiten ("Sie sprechen von mir nur leise. Und weisen auf meinen Schorf.")
"Blatt im Wind" ist ein intimes Country-Folk-Stück mit transparenter Instrumentierung und sanft fließender Melodieführung. Dota Kehr singt sehnsüchtig und mit traurigen Untertönen, was perfekt neben die sonstigen bittersüßen Noten passt.
"Finale" gehört zur Gedichtsammlung "Verse für Zeitgenossen", die Kaléko 1945 im Exil in den USA verfasste. Die Poesie versprüht eine "aufgeräumte Melancholie", wie Thomas Mann die Wirkung der Worte der Lyrikerin beschrieb. DOTA hat dazu Musik entwickelt, die der Schwermütigkeit entgegenwirkt, indem ein trabender Rhythmus, dessen Geschwindigkeit allmählich gesteigert wird, Lebendigkeit und Tatendrang heraufbeschwört.
"Der Gummiball" beleuchtet als Folk-Pop mit spontaner Ausrichtung musikalisch und inhaltlich die fröhlich-unbeschwerte Seite der Dichterin.
Bei "Kurzer Epilog" geht es um den Moment der Trennung in einer Beziehung, wenn Eckpunkte bilanziert werden. Die Konfliktsituation wird mit verteilten Rollen als Dialog aufgeführt. Der männliche Sprech-Gesangs-Partner ist hierbei der vielfach talentierte Künstler Rainald Grebe. Die in Zuckerwatte eingepackten Smooth-Jazz-Klänge erzeugen als Stimmung den Kummer verschleiernden Zweckoptimismus.
Gleicher Inhalt, anderer Sound: Mit dem tänzelnden Synthie-Pop von "Das letzte Mal" beginnen die Bonus-Tracks. Danach kommt "Mit auf die Reise", ein Liebesgedicht, bei dem es darum geht, der geliebten Person etwas Besonderes mit auf Reisen zu geben. Es werden ein paar Sachen aufgeführt, von denen wohl "mein ziemlich gut erhaltnes Herz" die wertvollste Beigabe sein wird. Die liebevollen Gedanken bekommen eine anmutige, von Jazz-Grooves durchzogene, swingende Begleitung verpasst.
Leider sind die Gedanken, die im Folk-Funk von "Zeitgemäße Ansprache" formuliert werden, immer noch und grade wieder hochaktuell. Mit messerscharfem Verstand analysiert Mascha Kaléko die menschliche Psyche in Krisensituationen: "Wie kommt es nur, dass wir noch lachen, dass uns noch freuen Brot und Wein, dass wir die Nächte nicht durchwachen, verfolgt von tausend Hilfeschrein. Habt ihr die Zeitung nicht gelesen, saht ihr des Grauens Abbild nicht? Wer kann, als wäre nichts gewesen, in Frieden nachgehn seiner Pflicht. Klopft nicht der Schrecken an das Fenster, rast nicht der Wahnsinn durch die Welt, siehst du nicht stündlich die Gespenster, vom blutigroten Trümmerfeld."
"Der Eremit" ist eine kurze, schunkelnde Moritat über Ausgrenzung und die Kernaussage von "Chanson für Drehorgel" lautet: "Ich träume oft vom Leben, wie`s sein könnte, wenn`s nicht so wär, wie`s nun mal ist". Mit einer ausreichenden Geldversorgung könnte man zum Beispiel hauptberuflich Optimist sein, ist eine dazu geäußerte Überlegung von Mascha. Eingebettet werden diese Visionen in einen New Wave-Pop, der für gute Laune sorgt, wobei die E-Gitarre mal so richtig durchdrehen darf.
Der Barock-Pop von "Herbstliches Lied" erinnert in seinem Ablauf an "Ich bin leider schuld" von "Wir rufen dich, Galaktika". "Herbstliches Lied" enthält die Zeilen, denen das Album seinen Namen zu verdanken hat: "Der du gebietest dem Mond und den Sternen. Der du die Lilie im Feld nicht verlässt. Sei du mit uns in der fernsten der Fernen! Gib deine Hand uns, beschirm unser Nest." Durch die dunklen, cremigen Streicher erhält der Track einen bedrückenden Grauschleier, der Gänsehaut erzeugt.
Im Jahr 1968 starb der Sohn von Mascha Kaléko mit nur 30 Jahren und 1973 erlag ihr Mann einer langjährigen Krankheit. "Ich und Du" ist der Ausdruck der innig verbundenen Liebe, bei der die jeweilige Individualität erhalten bleiben durfte: "Ich und Du wir waren ein Paar. Jeder ein seliger Singular. Liebten einander als Ich und als Du. Jeglicher Morgen ein Rendezvous."
Dota Kehr und ihre Musiker erfinden für diese Verse ein Klang-Gerüst, das sich bedächtig und sanft um die Worte legt, sodass die Formulierungen und die Musik eine harmonische Symbiose eingehen.
Das gepflegte Jazz-Chanson "Furchtlos trinken" behandelt eine satirische Betrachtungsweise des Alkoholkonsums und -rausches, der als "Brüderschaft mit der Unendlichkeit" bezeichnet wird. Der Liedermacher Götz Widmann sorgt hier mit seiner herben, rauchig-versoffenen Begleit-Stimme für ein authentisches Trinker-Feeling. "Jugendliebe a.D." klingt nach Neuer Deutscher Welle (Ideal, Neonbabies) und beschäftigt sich mit dem über Bord werfen von Prinzipien, wenn man sich erst einmal gesellschaftlich etabliert hat.
In entspannter Bossa Nova-Seligkeit läuft das Lied "Die vielgerühmte Einsamkeit" ab, das sich um den Satz "Wie schön ist es allein zu sein. Vorausgesetzt natürlich, man hat einen, dem man sagen kann: Wie schön ist es allein zu sein" dreht. Die Gedichte "Sonett in Dur" und "Sonett in Moll" haben die Verbindung von Text und Musik und eine Empfehlung für die Art der Vortragsweise bereits im Titel. Dennoch wird "Sonett in Moll", das vom Schmerz des Verlustes und vom Vergehen des Lebens berichtet, nicht als vollends depressives Stück umgesetzt. Das Licht bahnt sich ab und zu als freudiger Rhythmus seinen Weg zwischen den Schatten hindurch.
Dota Kehr erhebt für sich den Anspruch, dass ihre Kompositionen nicht wie vertonte Gedichte, sondern wie eigenständige Songs klingen sollen. Das ist ihr vortrefflich gelungen. Im Vergleich zu ihren eigenen Wortschöpfungen zeigt sich darüberhinaus eine verblüffende Geistesverwandtschaft zu Mascha Kaléko, da ihre Aussagen über einen ähnlich feingeistigen Humor und sinngleiche Themen verfügen.
Die Band (Jan Rohrbach, Bass; Janis Görlich, Schlagzeug; Jonas Hauer, Keyboards) und die Gäste an Streich-, Blas- und Tasteninstrumenten unterstützen Dota Kehr (Gesang, akustische Gitarre) aufmerksam, einfühlsam und spritzig.
Auch die Beiträge der verschiedenen Gastsängerinnen und Gastsänger, zu denen unter anderem noch Black Sea Dahu, Sarah Lesch und Funny van Dannen gehören, sind durchgängig sinnvoll, sensibel und bereichernd. Beinahe hätte sogar Patti Smith, die auf den ersten Teil der Kaléko-Songs aufmerksam geworden war, als Duett-Partnerin teilgenommen. Aber leider hat die Rechteinhaberin der Kaléko-Texte nicht die Genehmigung zur Vertonung der Übersetzung von "Die frühen Jahre" erteilt.
"In den fernsten der Fernen" bringt zusammen, was zusammengehört: Kluge Texte, eine abwechslungsreiche Instrumentierung und eine Sängerin/Komponistin mit einem Gespür dafür, wie fremde Wortschöpfungen in eine Gestalt gebracht werden können, dass sie wie eigene Beiträge anhören. Vertonungen von Lyrik klingen häufig gekünstelt, holprig oder wie Hörbücher. Hier wurde alles richtig gemacht, sodass die Kaléko-Vertonungen hinsichtlich der Geschmeidigkeit nicht von den Eigenkompositionen von DOTA zu unterscheiden sind. Ob der Sound nun dem Liedermacher-Genre zuzurechnen ist oder Folk- oder Jazz-Pop-Elemente beinhaltet, DOTA machen bei jeder Interpretation eine gute Figur.
Die Verse von Mascha Kaléko, die ihre Dichtung als "ironisch-romantische Großstadtlyrik" bezeichnete, sind im Grunde genommen zeitlos, auch wenn sie manchmal das Gesellschafts- und Sittenbild ihrer Lebensphase abbilden. Sie machen Lust darauf, die Poesie in Gänze kennen zu lernen. DOTA erweist der Lyrikerin durch ihre gehaltvoll-lockere künstlerische Wiedergabe ein würdevolles Andenken und krönt ihre eigene Leistung erneut mit einer sehr empfehlenswerten Liedersammlung!