Damien Jurado praktiziert mit "Reggae Film Star" die Kunst der vorgetäuschten Untertreibung.
Der am 12. November 1972 in Seattle geborene Damien Jurado ist in den 25 Jahren seiner Veröffentlichungs-Karriere schon längst vom Insider-Geheimtipp zum anerkannten Singer-Songwriter herangewachsen. Seine erste offizielle Platte "Waters Avenue S." brachte er 1997 beim Sub Pop-Label heraus, das durch Grunge-Bands wie Mudhoney, Screaming Trees, Soundgarden oder Nirvana bekannt wurde. Die Plattenfirma setzte später auf Diversifikation und nahm unter anderem Dark-Folk-Acts wie Scud Mountain Boys, The Pernice Brothers und Mark Lanegan unter Vertrag. In diesem Umfeld konnte sich die Jurado-Musik schnell vom rumpelnden Folk-Rock zu einem Sound mit immer mehr sensibel-intimen Anteilen entwickeln. Wobei er für "I Break Chairs" (2002) nochmal zu einem aggressiveren Klang zurückkehrte.
Auch wenn der Vergleich mit Nick Drake bei introvertierten Musikern inflationär benutzt wird, so ist er bei Damien Jurado tatsächlich angebracht. Die traurige Stimme, die geschmackvollen Streicher-Arrangements, die an die Robert Kirby-Entwürfe für Nick Drake erinnern und die überwiegend entspannten Klang-Darbietungen sprechen da eine deutliche Sprache. Gibt es etwa eine spirituelle Verbindung zwischen den beiden Musikern? Der kurze Appetitanreger "Lois Lambert" zeigt zumindest eine schon gespenstische Nähe zu dem 1974 mit nur 26 Jahren gestorbenen Nick Drake.
"Reggae Film Star" ist bereits Jurados achtzehntes Album, wobei der fleißige Autor seit 2018 in schöner Regelmäßigkeit jedes Jahr eine Platte fertigstellte, bei denen er seit "In The Shape Of A Storm" aus 2019 ausschließlich vom Multiinstrumentalisten Josh Gordon begleitet wird, da sein bisheriger künstlerischer Zwilling Richard Swift 2018 den Folgen seiner Alkoholsucht erlag. 12 Songs sind es dieses Mal geworden, die in der klassischen LP-Länge von 35 Minuten Platz fanden, womit das Werk noch die längste Laufzeit der letzten fünf Platten aufweist. Aber Qualität geht natürlich vor Quantität, wenn auch der Konsument einen gewissen Anspruch auf einen zeitlichen Gegenwert für sein Geld erwarten darf.
Beim Opener "Roger" tauchen sie dann auch das erste Mal auf, diese wohlig-weichen synthetischen Streichertöne, die bei aller Lieblichkeit nicht süßlich-klebrig klingen. Dieser kleine, aber feine Unterschied bei der Bildung einer Klangfarbe ist entscheidend dafür, ob der Sound authentisch-natürlich oder aufgesetzt-schmierig empfunden wird. "Roger" wartet durch die passenden Schwingungen allerdings mit einer Melancholie auf, die Schmerz spürbar macht, ohne dabei weinerlich zu wirken.
Diese Stimmung ist auch zunächst bei "Meeting Eddie Smith" vorherrschend. Nach etwas über einer Minute gibt es einen Bruch und der Song wird durch leicht swingende brasilianische Rhythmen und hymnische Background-Gesänge in ein leichteres Fahrwasser befördert. Aber nach einer weiteren Minute ist die Schwermütigkeit zurück und hält sich bis zum Ende des Stücks.
Beim gemütlichen "Roger’s Audition" und der Ballade "What Happened To The Class Of ’65?" setzt sich allmählich ein Sound-bestimmender, tapsender Rhythmus durch, wie er auch bei den groovenden Folk-Boogie-Nummern von J.J. Cale zum Einsatz kommt. Der intime Jazz-Folk "Location, Undisclosed (1980)" hält mehrere Ausprägungen bereit. Zunächst startet das Lied langsam und scheu, erhält dann eine elegante Pop-Legierung und anschließend klingt es romantisch aus.
"Day Of The Robot" balanciert charmant das Verhältnis zwischen intimer Atmosphäre und strammem Beat aus, wobei der Gummiband-Bass für Beweglichkeit und die Streicher-Wolken für Nachdenklichkeit stehen. Mit einem ausgeglichenen einminütigen Folk-Jazz-Intro beginnt "Ready For My Close Up", das danach etwas strenger und wortreich fortgeführt wird.
Das dringliche "Taped In Front Of A Live Studio Audience" wird durch einen monoton-hypnotischen Takt und eine im Hintergrund quengelnde E-Gitarre nach vorne getrieben, während der Gesang versucht, in dieser nervösen Atmosphäre Haltung zu bewahren. "Whatever Happened To Paul Sand?" besteht größtenteils aus einer Unterhaltung, wobei alle Gespräche und Gedanken nur von Damien Jurado gesungen werden. Der zur Untermalung verwendete Folk-Rock bildet eine Grundlage, die weder leidenschaftlich noch gelangweilt daherkommt. Eher routiniert-unaufgeregt, aber dennoch interessiert-aufmerksam.
Kaum ist der Spannungsbogen von "The Pain Of No Return" aufgebaut, ist das Lied auch schon wieder zu Ende, so dass der Dream-Pop sein süßes Gift gar nicht richtig versprühen kann. Mit über fünf Minuten Laufzeit ist "Gork Meets The Desert Monster" das längste Stück des Albums und drückt zuvor geäußerte essentielle Gefühlslagen erneut aus. So taucht intim-zerbrechlicher Country-Folk auf, psychedelisch-mystische Schwingungen werden eingeblendet und der Gesang lotet die Spannweite zwischen Zerbrechlichkeit und Empörung aus.
Damien Jurado ist nicht nur ein einfühlsamer Song-Gestalter, sondern auch ein Poet, der seine Texte assoziativ und hintergründig verfasst, wobei einige Bedeutungen kryptisch bleiben. Genau wie der rätselhafte Album-Titel, zu dem es offenbar keinen Bezug zu geben scheint. Die überwiegende Gefühlslage auf "Reggae Film Star" ist bittersüß, das heißt, Emotionen wie Ernsthaftigkeit und Empathie ohne krankhafte Schwermut spielen eine große Rolle.
Gesanglich bewegt sich Jurado oft im sympathischen Mittelton-Bereich. Intensivere Stimmungslagen werden von ihm nicht durch eine Erhöhung der Lautstärke, sondern durch den Wechsel in höhere Stimmlagen ausgedrückt, was für Geduld und Liebenswürdigkeit bei der Behandlung von Problembereichen spricht. Die Songs hinterlassen auch dadurch meistens ein bescheidenes oder demütiges Bild. Sie sind nicht überladen und beinhalten fein gesponnene Arrangements, die ihre suggestiven Eigenschaften erst nach und nach preisgeben.
Neben Nick Drake sei noch Neil Young als Bezugspunkt erwähnt. Besonders die milden Soundtrack-Folk-Songs von "Comes A Time" (1978) und die mystisch-verhangene Undurchsichtigkeit von "On The Beach" (1974) haben Eindrücke hinterlassen, denn die dort eingesetzte Kunst der vorgetäuschten Untertreibung wird auch von Damien Jurado praktiziert. Das führt dazu, dass sich seine Lieder manchmal wie spontane Demo-Versionen anhören, in Wirklichkeit aber präzise ausgeklügelte, nebulös gestaltete, delikate Kompositionen sind. "Reggae Film Star" ist wie eine sinnliche Innenansicht der menschlichen Psyche und möchte fachkundig erobert werden. Entspannen. Zuhören. Genießen.