Zu wertvoll, um im Electronic-Pop zu versauern.
Die Musikerin Charli Adams aus Alabama betreibt mit ihrem Debüt-Album "Bullseye" Vergangenheitsbewältigung. Sie rechnet mit ihrer Kindheit und Jugend in einem streng konservativen Elternhaus ab, das ihr keine Möglichkeit zur Entfaltung ließ. Erst nach ihrem Umzug nach Nashville konnte sie sich als Musikerin frei entwickeln. In ihrer neuen Heimat traf sie unter anderem auf Justin Vernon (Bon Iver), der sie förderte und ermutigte, ihr eigenes Ding durchzuziehen. Beim Dart spielen verlieh Justin ihr den Spitznamen "Bullseye", der nun die ab 16. Juli 2021 vorliegende Platte ziert, welche von Dan Grech (Lana Del Rey) und Brian Kierulf (Lady Gaga) produziert und von Patrick Dillett (St. Vincent) gemischt wurde. Das ist eine hochkarätige Unterstützung, die zeigt, dass erfahrene, namhafte Künstler an das Talent von Charli Adams glauben.
Glaube, Liebe und Hoffnung sind Grundlagen des spirituellen Lebens. Was aber, wenn diese Gefühlslagen durch einen Song vermittelt werden? Handelt es sich bei der Ideen-Verwirklichung dann auch um Einflussnahme einer höheren Macht oder können solch ergreifende Schwingungen alleine aus den kreativen Möglichkeiten eines geistig wachen Menschen heraus entstehen? "Emo Lullaby :’(" besitzt diese unsichtbaren Kräfte, die in der Lage sind, starke Emotionen auszulösen. Der Track hat eine herausfordernde Instrumentierung, die psychedelische Wirkungen erzeugt. Der Gesang von Charli Adams ist mitfühlend, ohne durch ein Jammertal zu schreiten und die erzeugte Stimmung ist so idyllisch, dass beim Hören die Außenwelt ausgeblendet wird.
"In "Cheer Captain" geht es darum, die eigene Meinung zu schätzen und sich zu weigern, sein authentisches Selbst für andere zu verändern. Ich bin noch am Lernen, aber ich dachte, das wäre ein guter Anfang", berichtet Adams über den Inhalt ihrer dritten Single. Musikalisch handelt es sich hier um einen rohen Folk-Song mit melodischem Pop-Kern, wobei die dröhnend-verzerrten elektrischen Gitarren wie ein grollendes Hintergrundgeräusch eingesetzt werden.
Das wehmütig-sehnsüchtige "Didn’t Make It" wäre ohne stramm-monotone Rhythmus-Begleitung vermutlich nur eine sentimentale Ballade. So wird ein spannender Gegensatz zwischen Sensibilität und Tatkraft erzeugt, wie man ihn ähnlich bei einigen Songs der New Waver The Psychedelic Furs ("The Ghost In You" aus 1984, "Love My Way" aus 1982) erlebt hat.
Die liebliche Folk-Ballade "Headspace" wird durch den Duett-Gesang des Country-Pop-Songwriters Ruston Kelly verstärkt. Adams Stimme bewegt sich dabei nahe in einem weinerlichen Segment, während Kelly mit seinen nüchtern-unauffälligen Tönen für einen Ausgleich sorgt. Dennoch kann das Lied seinen süßen und klebrigen Schnulzen-Eindruck nicht abstreifen.
"Get High w/ My Friends" biedert sich durch einen stumpfen Takt und wummernde Bässe am Dance-Pop an, was der sensiblen Künstlerin gar nicht gut steht. "JOKE’S ON YOU (I Don’t Want To)" hat bei einer ähnlichen Ausrichtung wesentlich mehr Ausstrahlung, weil hier rhythmisch nicht ganz so heftig geklotzt wird. Na gut, ein weniger an effekthaschender Elektronik wäre auch hier mehr gewesen. Will heißen: Etwas mehr an feinfühliger Zurückhaltung hätte dem Track wahrscheinlich seine anfängliche, sinnlich-geheimnisvolle Aura bewahrt.
Für "Maybe Could Have Loved" hat Charli Adams das Electronic-Pop-Duo Nightly aus Nashville als Begleitung engagiert. Die ruhige Nummer wird mit allerlei Synthesizer-Schwirren durchzogen, was sich allerdings nicht nachteilig auswirkt, sondern für einen eigentümlichen, seltsam-reizvollen Sound sorgt. Mit "Bother With Me" findet Charli anfangs zu einer ursprünglichen Folk-Untermalung zurück. Hier kann die Musikerin ihr ganzes Einfühlungsvermögen zur Geltung bringen und überzeugt durch eine gefühlsbeladene Stimme voll und ganz. Nach einer Minute wird das Stück nach und nach üppiger instrumentiert, entwickelt sich zu einer Rock-Pop-Ballade und verliert seine unschuldige Intimität.
"Remember Cloverland" knüpft an das romantisch-verspielte, aber auch aufmunternde "Didn’t Make It" an und versteht es, durch eine charmant-geduldige Ausstrahlung zu überzeugen. Novo Amor ist ein walisischer, melancholisch-sanfter Folk-Sänger mit hoher Stimme, der "Seventeen Again" seinen Stempel aufdrückt. Das Lied hat einen harmonischen Charakter, läuft bedächtig und beruhigend ab, wirkt beiläufig angehört unspektakulär, gehört aber aufgrund seiner überlegenen Intensität zu den Höhepunkten des Albums. Das Stück "Bullseye" lehnt sich emotional an den Vorgänger an, wurde nur rhythmischer und druckvoller arrangiert, so dass es unter defensivem Grunge-Rock einzuordnen ist.
Das Album lässt einige Fragen offen: Warum lässt sich Charli Adams manchmal in seichtes Fahrwasser drängen und spielt überzuckerte, relativ belanglose Lieder ein, wo sie doch so viel mehr kann? Warum haben Kenner wie Justin Vernon nicht mehr Einfluss ausgeübt, um gegen diesen Mainstream-Kitsch anzusteuern? Grade hat doch sogar Taylor Swift bewiesen, dass sich Kommerz und Anspruch nicht widersprechen müssen. Ihr engagiertes, sensibles Songwriting hat durch die Zusammenarbeit mit Musikern aus dem The National-Umfeld für großartige Alben ("Folklore" und "Evermore", beide aus 2020) gesorgt, die sich auch gut verkauft haben. Denn nicht nur "Emo Lullaby :’(" und "Seventeen Again" beweisen, dass Charli zu einer ähnlich konzentriert-empfindsamen Leistung fähig ist.
"Bullseye" ist in einigen Bereichen eine vergebene Chance, wenn es darum geht, raffinierte Country-, Folk- oder Pop-Kunst zu demonstrieren. Nichtsdestotrotz: Charli Adams besitzt genau die richtige Ausstrahlung, um gediegen verschlungenen Country-Folk-Pop-Hymnen die passende Stimme und Stimmung zu verleihen, sie muss das nur konsequenter durchsetzen!