Eine Weihnachtsplatte von Calexico?
Wenn Musiker ein Weihnachtsalbum aufnehmen, dann sind sie meistens künstlerisch auf dem absteigenden Ast. Natürlich gibt es rühmliche Ausnahmen wie das 2006 erschienene Werk "One More Drifter In The Snow" von Aimee Mann oder die "Christmas EP" von Low aus dem Jahr 1999, die mit ihren besinnlichen Beiträgen für anspruchsvolle Festtagsunterhaltung gesorgt haben. Und jetzt springen sogar die über jeden Zweifel erhabenen Calexico auf diesen meistens kommerziell sehr lohnenden Zug auf. Vielleicht trügt da der Schein. Die Songs sind nämlich schon im Juni 2020 als Ersatz für eine ausgefallene Tournee entstanden, wobei die Aufnahmen unter Mitwirkung einiger Gäste zwischen Europa, Mexiko und den USA zwecks Ausgestaltung hin und her geschickt wurden. Laut Aussage von Joey Burns handelt es sich bei "Seasonal Shift" eigentlich gar nicht um ein typisches X-Mas-Album, sondern einfach um Lieder, die gut zum Jahresabschluss passen. So kann man das zwar auch formulieren, aber trotzdem ist der Charakter der Platte festlich und feierlich. Viel wichtiger als die Bezeichnung und Zuordnung der Musik ist jedoch deren Güte und Relevanz. Braucht man sowas oder deckt man lieber den Mantel des Schweigens über diese Aktion?
Nun ja, hier gibt es Songs, die klingen genau so empathisch und exotisch, wie man es von Calexico erwartet ("Heart Of Downtown", "Natures Domain", "Glory`s Hope", "Tanta Tristeza", "Peace Of Mind"). Andere haben einen typisch weihnachtlichen Charakter ("Hear The Bells", "Christmas All Over Again", "Seasonal Shift") oder sind - wie sagt man es freundlich? - kindlich naiv ausgefallen ("Mi Burrito Sanero", "Sonoran Snowball"). Dazu gibt es mit John Lennon & Yoko Ono`s "Happy X-Mas (War Is Over)" noch eine prominente Cover-Version, zu der auch ein offizielles Comic-Strip-Video erstellt wurde.
Die besinnlichen Stücke "Christmas All Over Again" (im Original von Tom Petty) und "Seasonal Shift" klingen in diesem Kontext wie halbherzige Verlegenheitslösungen, die aufgrund der im Sommer entstandenen Idee das Christfest-Konzept zu stützen versuchen, aber nicht über genügend Tragkraft verfügen.
Es finden sich allerdings auch beachtenswerte Stücke auf dem Album. Allen voran das geheimnisvolle und fremdartige "Heart Of Downtown", das auf geschmeidige Art und Weise Anmut und einen unangestrengten Weltmusik-Groove zusammen bringt. Als Gast fungiert hier der nigerianische Sänger Bombino, der musikalisch für die Überwindung der Kluft zwischen seiner Welt und der westlichen Zivilisation steht. Die Klammer, die die Kulturen künstlerisch miteinander verbindet, ist die Hoffnung, dass die Zeiten besser und die Menschen solidarischer und toleranter werden.
Silbrig schimmernde, perlend-glitzernde Xylofon- und Marimbafon-Töne bringen "Glory's Hope" instrumental zum Leuchten und Glänzen. Das klingt dann nach klirrender Kälte und sternenklarem Himmel.
"Peace Of Mind" und "Nature`s Domain" sind dagegen traditionsbewusste, wehmütige Country & Western-Balladen, die relativ unsentimental zu Tränen rühren können. "Peace Of Mind" entstand um zwei Uhr nachts, ist entschlackt und führt Joey Burns an die Anfänge der Calexico-Aufnahmen zurück, die 1996 als "Spoke" erschienen. Als Inspiration für "Nature`s Domain" dienten Kinderbücher, die Abbildungen von frostigen Landschaften und Tieren im Winterschlaf enthielten. Um den kühlen Eindruck zu untermauern, wurden Nylonsaiten durch Stahlsaiten ersetzt und im Verlauf der Entwicklung des Stückes stellten sich Gedanken zum Klimawandel ein, die die Stimmung drückten.
Auch "Hear The Bells" und "Tanta Tristeza" transportieren melancholische Stimmungen, die die Hörer sofort in einen Zustand versetzen, der sie verträumt in wehmütigen Gedanken schwelgen lässt. Das ist ein Qualitäts- und Markenzeichen, dass etliche Songs von Calexico auszeichnen. "Hear The Bells" ist sowas wie der Schlüssel-Song des Albums, denn es geht darum, sich Zeit für Erinnerungen zu reservieren, um innezuhalten und die eigene Situation zu reflektieren. Weihnachtszeit = nachdenkliche Zeit.
Joey Burns baute zusätzlich ein Zitat aus dem mexikanischen Volkslied "Cancion Mixteca" ein, das er 1993 in der Version von Ry Cooder auf dem "Paris, Texas"-Soundtrack hörte, als er nach Tucson zog. In dem Lied geht es um Sehnsucht und den Verlust der Heimat. Die portugiesische Fado-Sängerin Gisela João legt einen wohligen Grauschleier über "Tanta Tristeza" und Martin Wenk spielt dazu eine traurige Chet Baker-Gedächtnis-Trompete. Bonjour Tristesse!
In Summe ist "Seasonal Shift" das erste Calexico-Werk, mit dem ich mich nicht voll identifizieren kann. Fünf nicht überzeugende Stücke von insgesamt zwölf Beiträgen bilden schon eine relativ hohe negative Quote, die man von Calexico bisher nicht kannte. Aber für Fans und Komplettisten ist die Platte aufgrund der sieben sehr guten Songs kein Fehlkauf und wer es harmonisch-behaglich mag und zu Weihnachten mal was anderes als sonst hören möchte, der macht mit "Seasonal Shift" nicht grundsätzlich etwas falsch.