"Big Time" sorgt für große Gefühle, wie sie bei hingebungsvoller Liebe oder schmerzhafter Trennung entstehen.
Angel Olsen, die als Angelina Maria Carroll 1987 in St. Louis geboren wurde, hat sich mit ihren fünf Alben "Half Way Home" (2012), "Burn Your Fire For No Witness" (2014), "My Woman" (2016), "All Mirrors" (2019) und "Whole New Mess" (2020) als sensibel-eindringliche Musikerin etabliert. Das am 3. Juni 2022 erscheinende Werk "Big Time" ist mit einer besonderen emotionalen Ausnahmesituation verbunden: Innerhalb kurzer Zeit verstarben die Eltern von Angel Olsen und in die gleiche Zeit fiel der Beginn einer neuen Liebe, in dessen Zusammenhang sie sich als queere Person outete.
Entsprechend eindringlich und intensiv sind die zehn neuen Songs ausgefallen: "All The Good Times" beschreibt das Ende einer Liebe, wobei rückblickend einschneidende Erkenntnisse und Gedanken aufgeworfen werden. Aber letztlich schließt die Abrechnung mit einem versöhnlichen "Danke für die guten Zeiten" ab. Angel Olsen sinkt dazu betroffen-sensibel wie Emmylou Harris und der traurig-trotzige und luftige Country-Noir-Hintergrund lässt die seelischen Verletzungen spürbar werden.
Der Song "Big Time" fängt den überschwänglichen emotionalen Rausch ein, den eine große Liebe auslösen kann. Absolute Glückseligkeit umgibt alle gesungenen Worte, die in einen schunkelnden Country-Walzertakt gepackt werden. Wolke 7 ist nicht fern.
"Dream Thing" legt völlig absichtlich und treffend ein schläfriges Tempo an den Tag. Schwebeklänge, aufblitzende Tontupfer, ein langsamer Schlagzeug-Takt und eine beruhigende Stimme zeichnen die Traumerlebnisse von einer Neubegegnung nach 25jährigem Streit nach. Das ist Dream-Pop in seiner ursprünglichen Bedeutung.
"Ghost On" geht noch einen Schritt weiter, was einen introvertierten Ausdruck angeht. Sensible Zerbrechlichkeit, verzehrende Sehnsucht und romantische Schmeichelei bestimmen dieses zarte, zeitlupenhaft ablaufende, grüblerische Ton-Geschöpf.
"All The Flowers" greift die Dankbarkeit darüber auf, jemanden gefunden zu haben, der bedingungslos liebt. Der betroffen wirkende, weinerliche Gesang und die in gedeckten Ton-Farben schwelgenden Streicher-Klänge tragen dick auf, so dass der Song nah am Kitsch angesiedelt ist.
Eben noch die unverzichtbare Liebe, dann die Trennung: "Right Now" kehrt die Scherben auf, macht die Gegensätze klar und beschreibt die Zustände, die zum Bruch geführt haben. Entsprechend dynamisch unterschiedlich ist die Musik aufgebaut. Von leise bedauernd bis leidenschaftlich aufbrausend reicht hier die Stimmungs-Kurve.
Total in sich ruhend verbreitet die Country-Ballade "This Is How It Works" Gelassenheit in trauriger Umgebung. Die elegischen Töne werden von einer weinenden Pedal-Steel-Gitarre, einem versöhnlichen Akkordeon, einem gemütlichen Schlagzeug und einer wehmütigen Stimme getragen.
Die Empfindungen von "Streets Of Philadelphia" (Bruce Springsteen) und "Nothing Compares 2U" (Sinéad O`Connor) wurden gemixt und in "Go Home" implantiert. Empathie und Verzweiflung halten sich die Waage und sorgen für besinnliche und aufwühlende Momente. Textlich beschäftigt sich der Song auch mit Vergangenheitsbewältigung: "Wie kann ich weitermachen mit all den alten Träumen", heißt es da unter anderem.
"Through The Fires" ist eine schwermütige Piano-Ballade, die die Einsamkeit und Sehnsucht nach Nähe verinnerlicht und diese Empfindungen zu Seelenbalsam umgewandelt hat. "Chasing The Sun" treibt die grade eben erlebte inbrünstig flehentliche Melancholie auf die Spitze: Ein Streicher-Arrangement lässt den Himmel weinen, das Piano scheint nur Moll-Tasten zu besitzen und die Stimme ringt um Fassung. Da erstarrt man förmlich in Ehrfurcht!
"Big Time" ist ein gefühlsbeladenes, wenn nicht überladenes Werk geworden. Der in Töne gegossene Liebesschmerz geht psychisch an die Substanz und das beschriebene Liebesglück kann euphorische Gefühle auslösen. Das sind beides Zustände, die in der Realität die Zurechnungsfähigkeit trüben können und als musikalische Form dazu geeignet sind, die Normen zu sprengen. Deshalb ist die hemmungslose Hingabe, die für "Big Time" gewählt wurde, absolut glaubhaft und angebracht.
Die Klänge werden im tränenreichen Country-, süffigen Folk- und opulenten Pop-Gewand dargeboten. Das ist Musik für Menschen, die gerne in großen Emotionen baden. Sie können Kraft aus dieser konstruktiven Melancholie schöpfen, in den Klängen versinken und sich wohl und verstanden fühlen.