Lindsey Buckingham: Gift Of Screws auf CD

Seine größten Erfolge feierte LINDSEY BUCKINGHAM mit Fleetwood Mac: Die Alben Rumours und Tusk tragen unüberhörbar seine Handschrift und zeichnen ihn als kreative Kraft der Jahrhundertband aus. Aber auch als Solokünstler gehört BUCKINGHAM zu den außergewöhnlichen Persönlichkeiten, die sich auf neue Pfade begeben und ihre eigene Vision von anspruchsvoller Popmusik formulieren. Sein vor etwa zwei Jahren erschienenes Album Under The Skin überzeugte mit ungewöhnlichem, aber feinfühligem Songwriting und schickte ihn zudem auf eine lange Tournee, die auf der vor wenigen Monaten veröffentlichten DVD/CD Live At The Bass Performance Hall dokumentiert wird. Nun präsentiert LINDSEY BUCKINGHAM sein neues Soloalbum Gift Of Screws, das die Essenz aus über drei Dekaden Musikerdasein zieht.

Gift of Screws ist in der Tat das Ergebnis aus 35 Jahren künstlerischer Entwicklung und Wachstum, und selten hat LINDSEY BUCKINGHAM sein ganzes Talent und die ganze Bandbreite seines Feingefühls so zugänglich und gewinnend auf einem Album ausgebreitet wie auf diesem. In mancher Hinsicht ist es ein rockiges Gegenstück zum 2006er Vorgänger Under The Skin, der sich eher der Akustikgitarre verschrieb, denn mit Time Precious Time, Bel Air Rain und dem Opener Great Day geht BUCKINGHAM durchaus über den sehr intimen Charakter des Vorgängers hinaus. Andererseits führt Gift Of Screws das Erbe der Fleetwood Mac weiter, zumal Mick Fleetwood und John McVie ihren Teil zu einigen Songs beigetragen haben, etwa bei Wait For You und dem Titelsong Gift Of Screws. Die Brücke zwischen beiden Polen bilden die introspektiven Reflexionen über Liebe und Sehnsucht von Love Runs Deeper, Underground und Treason. Und der rote Faden, der dies alles zusammenhält, ist BUCKINGHAMs unbestrittene Virtuosität als Gitarrist und Producer sowie seine Stärke als Sänger und Komponist.

Das Album entstand teils in BUCKINGHAMS Homestudio und teils in Hotelzimmern und Backstage-Räumen während seiner Tour zu Under The Skin. Auch die Produktion übernahm er in weiten Teilen wieder selbst, lediglich für zwei Songs räumte er den Platz am Mischpult für den Starproducer Rob Cavallo, der mit seiner Arbeit mit Green Day, Jewel, Dave Matthews Band uva. zu den besten seines Geschäfts gehört.

Gift Of Screws ist das Ergebnis vieler Komponenten, die Summe der Hingabe und Liebe zur Musik, die BUCKINGHAM so trefflich in die Songs implantiert hat, inklusive aller Freuden und Probleme, die ihm die Arbeit bereitete. Der Titel des Albums bringt dies klar zum Ausdruck: „Der Refrain des Titelsong basiert auf dem Gedicht „Essential Oils Are Wrung“ von Emily Dickinson, das eine Analogie zur Aufzucht eines Weinstocks zieht. Es ist nicht einfach eine Traube, die heranreift: Du musst den Weinstock pflanzen. Du musst die Trauben pflücken. Du musst dich entscheiden, was du daraus machen willst. Dann musst du die Trauben pressen und warten.“ Nun, vielleicht wüsste Emily Dickinson gar nicht, was sie mit dieser Traube würde anfangen können. Immerhin ist es ein voranstürmender Rocker, der von Mick Fleetwoods neo-archaischen Drums angetrieben und von BUCKINGHAMs manischem Lachen im Refrain pointiert wird – ein mad professor at his best! Aber die Liebe und Sorgfalt in dem Album würde die Dichterin mit Sicherheit zu würdigen wissen.

„Ich würde behaupten, dieses Album ist eine Destillierung vieler Zeitepochen. Es gab manche Fehlstarts und Songs, die weit in die vergangenen Jahre zurückreichen und erst hier ihren Ort gefunden haben. Aber es gibt auch eine Reihe brandneuer Songs und einige Ausblicke in die Zukunft“, so BUCKINGHAM. „Ich hatte den unbedingten Willen, all dies zusammen zu bringen, und es ist eine Tatsache, dass ich als Künstler mehr oder weniger an meinem Idealismus festhalte und der Meinung bin, dass es immer noch eine Menge zu sagen gibt. All dies kulminiert in Gift Of Screws.“

Der Opener Great Day berührt all diese Aspekte und fungiert wie ein sich öffnender Vorhang oder eine Ouvertüre für die vielfarbige Reise, die Gift Of Screws darstellt. „In Great Day ist schon alles da: Er enthält Picking auf der akustischen Gitarre, eine Lead Guitar, eine ungewöhnliche Rhythmus-Sektion und Harmonie-Gesänge“, führt BUCKINGHAM aus. Nicht weniger eindrucksvoll stellen sich Text und der lebhafte Grundton des Songs dar. Keine Überraschung, wenn man die Quelle für all das kennt: „Vor ein paar Jahren strolchte mein Sohn Will durch das Studio und rief die ganze Zeit: Great day! Great day! Ich fragte ihn, was das bedeuten soll, und er antwortete: Keine Ahnung, hab ich mir grad ausgedacht. Ich schaute ihn an und meinte: Weisst du was, ich mach einen Song daraus! Also wurde er zum Co-Texter.“

Aber hier hört der familiäre Anteil noch nicht auf. Kristen Buckingham, LINDSEYs Gattin, schrieb den Text zu Love Runs Deeper und trug ihren Teil auch zu Did You Miss Me bei, die übrigens beide von BUCKINGHAMs Tourdrummer Walfredo Reyes getrommelt werden. „Inhaltlich bezieht sich das Album weitgehend auf Dinge, die mir in den letzten zehn Jahren begegnet sind,“ führt er weiter aus. „Aber es gibt viele Interpretationsmöglichkeiten. Man kann die Inhalte in Bezug auf die Familie betrachten, man kann aber auch noch weiter gehen und sehen, wie sehr die Familie auch an der Entstehung der Songs beteiligt war.“ So bildet seine Familie – die BUCKINGHAMS haben zwei Töchter und einen Sohn - eine der Wurzeln von Gift Of Screws, eine andere ist die verhältnismäßig stabile Situation der Fleetwood Mac, die ja eine durchaus bewegte Vergangenheit besitzen, aber im Laufe der letzten Aufnahmen und Tourneen eine neu gewonnene Vitalität bewiesen. All dies ein sehr fruchtbarer Boden für BUCKINGHAMs kreativen Geist. „Aus verschiedenen Gründen kam an diesem Punkt in meinem Leben vieles zusammen. Viele Ideen und viele Dinge, die ich vorher nie probiert hatte, sind plötzlich aufeinander getroffen“.

Und in mancher Hinsicht bereitete Under The Skin den Weg für Gift Of Screws. „Das Erstere war mehr ein Kramladen von einem Album“, erklärt BUCKINGHAM. „Es ist fast wie eine Vorgruppe vor dem Headliner gewesen. Auf Gift Of Screws liefere ich viel mehr Aspekte von dem, was ich kann, zum Beispiel Gitarrensoli und stärkere Rockeinflüsse. Es rockt viel mehr, und alles scheint besser zusammen zu passen.“Eine Balance, die BUCKINGHAM suchte, seit er und Stevie Nicks ihre ersten Aufnahmen einspielten, kurz bevor sie im Jahr 1975 zu Fleetwood Mac stießen. Immerhin ein Schachzug, der eine tief im britischen Blues verwurzelte Insider-Band zu einer der einflussreichsten Kräfte der populären Musik jener Ära machte. Schon mit dem ersten Album in diesem Line-Up, Fleetwood Mac, und dem Superhit-Album Rumours; auf dem sich u. a. anderem auch Go Your Own Way und The Chain befinden, wurde BUCKINGHAMs Meisterschaft als Songwriter, Performer und Producer zum Herzen der Mac. Das gipfelte im 1979er Album Tusk; das BUCKINGHAM heute als „mein in vielerlei Hinsicht erstes Soloalbum“ bezeichnet.

Aber das erste echte Soloalbum kam erst 1981 mit Law And Order, auf dem sich auch die Hit-Single Trouble befand, gefolgt von Go Insane im Jahre 1984, dessen Titelsong schnell zum Highlight der Solo- aber auch Fleetwood Mac-Konzerte wurde. Nach dem Mac-Album Tango In The Night (1987) verließ er die Band zunächst wieder und regenerierte seine Liebe zur Musik mit Out Of The Cradle von 1992. Und schon 1997 setzte er die Reise mit Fleetwood Mac und dem Live-Album und Film The Dance fort, bevor 2003 das nächste Mac-Album Say You Will und eine sagenhaft erfolgreiche Welttournee folgten.

„Wenn es einen Song gibt, in dem es um Fleetwood Mac geht, dann ist es The Right Place To Fade“, bestätigt BUCKINGHAM und weist zugleich auf das zentrale Element von Mick Fleetwoods Drums in diesem Song hin. „Der Song ist auch ein Rückblick auf die schwierigen Zeiten, die wir alle durchmachten, auf dieses hohe Niveau von Erfolg, den wir hatten, und natürlich auf die Interaktion zwischen den Mitgliedern der Band. Die Tatsache, dass wir hohe Erwartungen zu erfüllen hatten, auch auf Kosten unserer Gesundheit, vor allem der geistigen Gesundheit. Aber wir begrüßen auch, dass wir durch all das hindurch gegangen sind, was andere vielleicht erdrückt hätte – und wir begrüßen, das wir trotz dieser Erfahrungen noch immer da sind, und dass es noch einige Kapitel in dieser Geschichte zu schreiben gibt.

Doch das emotionale Zentrum von Gift Of Screws besteht nicht in dem, was LINDSEY BUCKINGHAM gewesen ist, sondern darin, wo er heute steht. Das fröhliche Love Runs Deeper teilt einen Geist mit den vergangenen Meilensteinen wie Go Your Own Way, wie BUCKINGHAM betont, vor allem in den „qualmenden Gitarrensoli und Refrains, die sich in ein Hochgefühl öffnen und eine Freude ausstrahlen. Aber dasselbe Empfinden von Freude, das Gefühl der Kraft, das Musikmachen dem Musiker bereitet, kann ich auch durch meine Familie bekommen.“Bel Air Rain sei zum Beispiel eine selbstkritische Meditation darüber, dass er als Mensch und als Musiker in einer äußerst glücklichen Situation steht. Und wenn Great Day eine Ouvertüre ist, dann ist Treason der Song, der am Ende eines schönen Tages alles noch einmal zusammenfasst. „Treason bedeutet für mich: Wir alle, die ganze Welt, durchlaufen viele, viele Veränderungen. Aber wir müssen immer daran glauben, dass es mehr Gutes als Böses gibt.“

Eines dieser guten Dinge sind Musiker wie LINDSEY BUCKINGHAM, der, was er tut, mit Hingabe und Leidenschaft macht. Vom Pflanzen des Weinstocks bis zur Ernte und dem Auspressen der Trauben. Nicht zu vergessen der Genuss des gereiften Weines…