Saturday Night Music (Ian McEwan)
Perowne wirft einen Blick auf Baxters Kopf. Er ist mit Rodneys Rasur zufrieden und sagt, schon auf dem Weg zum Waschbecken: „Öffnen Sie die Nähte, während ich mir die Hände schrubbe.“ In der Ecke sucht er noch schnell eine Klaviermusik aus. Er entscheidet sich für die Goldberg-Variationen. Die hat er in vier Aufnahmen da, doch wählt er nicht die etwas pathetische, unorthodoxe von Glenn Gould aus, sondern das verständige, samtweiche Spiel von Angela Hewitt, also die erste Arie mit allen dreißig Veränderungen, [aufgenommen, so der von der Plattenfirma verbreitete Mythos, nach dem eigentlichen Ende der Arbeiten am fünften Studiotag in einer einzigen nächtlichen Sitzung ohne Pause und nennenswerte Schnitte].
Die zarte, wehmütige Arie setzt ein, entfaltet sich, beinahe zögerlich anfangs, so dass der Operationssaal noch größer wirkt. Schon beim ersten sonnenblumengelben Tupfer auf der blassen Haut überkommt Henry ein vertrautes Wohlbehagen, das Vergnügen daran, unter den hellen Oberlichtern die Instrumente auf dem Wagen aufgereiht zu sehen und genau zu wissen, was er tut, mit seinem Team in der gedämpften Stille des OP zu sein und das Gemurmel des Luftfilters zu hören, das schärfere Zischen des Sauerstoffs, der in die Maske strömt, die man unter den Tüchern an Baxters Gesicht befestigt hat. Es ist wie eine Kindheitserinnerung, die Faszination eines Brettspiels.
[...]
Mehr als eine Stunde ist vergangen, und Hewitt spielt schon die letzte Variation, das Quodlibet – stürmisch und witzig, fast derb, mit einem fernen Echo von Bauernliedern über Sex und Schlemmereien. Die jubelnden Töne verklingen, einige Sekunden Stille, dann setzt die Arie wieder ein, auf dem Notenblatt identisch, doch durch alle vorhergegangenen Variationen verändert, noch immer zart, jetzt aber auch resigniert, etwas trauriger, von fern schweben die Klaviertöne heran, wie aus einer anderen Welt, schwellen nur allmählich an. Er schaut auf einen Teil von Baxters Hirn herunter und kann sich leicht einreden, dass dies vertrautes Terrain sei, eine Art Heimatland mit flachen Hügeln und verschlungenen Tälern, für ihn so bekannt wie das eigene Haus. Und diese Vertrautheit täuscht ihn täglich aufs neue über das Ausmaß seiner Unwissenheit hinweg, über die allgemeine Unwissenheit. Denn trotz aller Fortschritte weiß man immer noch nicht, wie diese gut geschützte, knapp ein Kilo schwere Zellmasse tatsächlich Informationen kodiert, wie sie Erfahrungen speichert, Erinnerungen, Träume und Absichten. Ob je erklärt werden kann, wie Materie zu Bewusstsein wird?
(Ian McEwan, Saturday. Zürich: Diogenes 2005, S. 345ff., hier gekürzt wiedergegeben.)