Verfallenheit der Welt in scheinbar unauflösbare Machtstrukturen
Der Schweizer Schriftsteller Hansjörg Schertenleib legte mit "Das Zimmer der Signora" seinen zweiten Roman bei Kiepenheuer & Witsch vor, für den er mit dem Kranich-steiner Literaturpreis 1995 ausgezeichnet wurde.
Der Roman gliedert sich in drei Hauptteile, deren Handlung schnell erzählt ist: Die Hauptfigur Stefano Mantovani bekommt durch den Bruder Pino die Nachricht, daß der Vater Selbstmord verübt hat. Mantovani reist daraufhin aus der Schweiz, wo er seit seiner Kindheit und nach der Trennung der Eltern – die Mutter Schweizerin, der Vater Italiener – lebte, nach Norditalien, um mit dem Bruder die letzten Angelegenheiten für den toten Vater und dessen Nachlass zu regeln. Dort trifft er seine Jugendliebe Carla wieder, wird von der italienischen Polizei verhaftet, um den Wehrdienst beim Militär abzuleisten, dem er sich durch seinen Schweizer Wohnort entzogen hatte. Nach der Grundausbildung wird Mantovani zum Dienst in ein Heim versetzt, das für die Pflege alter Kriegsveteranen zuständig ist. Zufällig liest er in einer Zeitschrift eine Annonce, in der von einer anonymen Gräfin, der ,,Signora“, ein Vorleser für „gewisse“ Texte in einem geheimnisvollen Zirkel gesucht wird. Der abschließende dritte Teil „Die Insel“ beschreibt die Jagd nach der erotischen Fotografie eines berühmten Fotografen, die Mantovani im Auftrag der mysteriösen Gräfin in London beschaffen soll.
Schertenleib schildert in Das Zimmer der Signora die Verfallenheit der Welt in scheinbar unauflösbare Machtstrukturen, in die fast alle Figuren des Romans hoffnungslos verstrickt sind. An allen Schauplätzen wird gnadenlose Macht über andere Menschen demonstriert und praktiziert. Die altersschwachen Veteranen im Pflegeheim brüsten sich nach wie vor mit ihren eigenen, früheren Machtansprüchen in Form von Militarismus, Faschismus oder Pseudointellektualismus. So schreit der fanatische Duce-Verehrer und Denunziant Zuzzi: „Ich beobachte alle!“ Der alte Benzini möchte ständig seine Macht über Frauen durch seine männliche Potenz unter Beweis stellen. Der Bibliothekar Bolger fühlt sich mittels seines Wörterbuchwissens den anderen Heiminsassen geistig überlegen, ohne aber wirklich etwas zu „wissen“. Gleichzeitig stellen die jungen Rekruten ihre Macht gegenüber den Veteranen oft in gewalttätiger und brutaler Weise auf die Probe und nutzen die Abhängigkeit der kränklichen und schwächlichen Alten schamlos aus.
Protagonist Mantovani bleibt dabei ein zwiespältiger Charakter: Einerseits ist er der Mitläufer, der sich von der Gewalt, dem maßlosem Alkohol- und Drogenkonsum, den Sauftouren und Autorasereien der Rekruten mitreißen läßt. Andererseits hält er sich oft im Hintergrund und schreitet ein, wenn es manche Soldaten übertreiben. Ähnliches passiert auch, als Mantovani in London versehentlich in eine treibende Masse britischer Fußball-Hooligans gerät. In der Masse der fanatisierten und grölenden Fußballfans gefangen zu sein und mitgerissen zu werden, versetzt Mantovani zunächst in panische Angst. Doch der Schrecken weicht, die latente Gewaltbereitschaft der Fans eskaliert, und Mantovani, der an sich Fremde, wird erneut zum Mitläufer, wird im Strudel der Gewalt aufgenommen.
Besonders auffällig werden in Schertenleibs Roman die Zusammenhänge von Macht und Gewalt durch die Schilderung der Beziehung zwischen Carla und Mantovani, der ihr hörig ist. Immer wieder leitet Schertenleib seinen Ich-Erzähler übergangslos in Rückblenden hinein, die die Kindheitserlebnisse einer verirrten, pubertären Abhängigkeit zur damals frühreifen Carla thematisieren. Stets wird in solchen Rückblenden die Macht charakterisiert, die eine Figur schon im Stadium der Kindheit und Jugend über eine andere ausübt. Carla, bereits in der Mädchengestalt als dominante Femme fatale vorweggenommen, beherrscht Stefano; dieser wiederum beherrscht Renzo, Carlas Bruder. Ebenso bleibt Mantovani der erwachsenen Carla stets untertan und bis kurz vor Romanende verbunden.
Der Voyeurismus, dem Mantovani als Vorleser der Gräfin ausgesetzt ist, stellt eine weitere Machtvariante dar: In jenem Zimmer der Signora bleibt er, angestrahlt durch starkes Licht, als Vorleser erotischer Texte den anonymen Zuhörern ausgeliefert, welche unerkannt und gesichtslos in der Dunkelheit vor ihm sitzen. Er flüchtet letztlich, er hält den Zustand des Bloßgestelltseins nicht aus.
Mantovani selbst kann sich seines Untertanengeistes zunächst nicht vollständig entledigen. Einer der Gründe dafür ist sicherlich, daß er die wahre Liebe, nach der er sich unterschwellig immer sehnt, nicht findet, auch in seinem Liebesidol Carla nicht, denn die Beziehung beider kommt über das erwähnte Machtverhältnis der sexuellen Obssessionen Carlas nicht hinaus. Eine wirkliche Liebesbeziehung kommt nie zustande. Erst ganz zum Schluß scheint für Mantovani (und für den Freund, den Veteranen Bolger) ein Schimmer der Hoffnung auf ein menschliches Dasein aufzutauchen.
Das schmutzige Veteranenheim, das elegante Zimmer der Signora, die Texte, die Mantovani als Vorleser zum Besten gibt, das familiäre, problembeladene Verhältnis Mantovanis zum Vater und dessen Selbstmord, die Beziehung zur Mutter, zum Bruder, die Verirrungen Carlas, das Verhalten der Veteranen, der Taumel der Soldaten im Rausch von Alkohol und Drogen, die Oberflächlichkeit im Umgang miteinander, Anonymität, Entfremdung, Dekadenz, psychische Komplexe, Rachegelüste und grundlose Gewalt – all diese Motive bestätigen metaphorisch das apokalyptische Chaos und die Endzeitstimmung der Romanwelt. Insbesondere das Leitmotiv der triebhaft fixierten Sexualität bestätigt in erster Linie deren allgegenwärtige Macht. Nur das ferne Irland, wo Bolgers Tochter Rebecca lebt, scheint paradiesische und idyllische Züge aufzuweisen.
Formal muß man Schertenleib, der rund fünf Jahre an seinem Buch gearbeitet hat, zugestehen, daß sich seine Prosa durch eine große Dichte und Feinheit auszeichnet, die beispielsweise die spröde Atmosphäre des Veteranenheims eindringlich festhält und für den Leser erfahrbar macht. Eindringlich sind die Beschreibungen der Orte und Figuren. Auch die gelegentliche Tragikomik mancher Abschnitte sollte nicht unerwähnt bleiben. Der Übergang in die Erinnerung Mantovanis geht meist unvermittelt vonstatten, was oftmals harte Kontraste bewirkt. Auch der Wechsel von poetischen Schilderungen – die von unscheinbarsten und alltäglichsten Details den Bogen spannen bis hin zu einer Bewertung der Welt als solcher – zu derben Bett- und Erotikszenen, bei denen zudem vor allem sprachlich oft zahlreiche Anleihen aus dem Bereich der Vulgärsprache gemacht werden, schockiert bisweilen. Zumindest hätte das Buch durch eine Reduzierung dieser Passagen in Bukowski-Manier eher gewonnen. Auch wenn der Autor dadurch wohl die rein mechanischen, völlig auf die Triebebene fixierten und allen wirklichen Liebesgefühlen und Zärtlichkeiten entbehrenden Beziehungen zwischen den beteiligten Figuren – bzw. eigentlich deren Beziehungslosigkeit – offenlegen will, so wirkt manche Beschreibung effektheischend und bewirkt darüber hinaus eine stilistische Uneinheitlichkeit der Erzählweise.
Schertenleib läßt seine Romanfigur Mantovani im Verlauf der Handlung nicht im Chaos und in Verzweiflung untergehen, sondern eröffnet ihm und seinem Freund Bolger eine Perspektive der Hoffnung. Damit erhält das Buch eine positive und ermutigende Note. Schertenleibs Roman ist einerseits durch die beeindruckend poetische Sprache und Erzählweise ein überaus lesenswertes Buch, andererseits werden diese Aspekte aber auch mit einer konstrastierenden, heftigen und manchmal fragwürdigen Deftigkeit ergänzt, die den Leser ebenso sehr zu provozieren wie zu schockieren weiß.