Klingendes Leben
"Resonanzen" hat Hélène Grimaud diese CD genannt. Und ganz sicher bezieht sich der Titel nicht allein auf die physikalische Klangentfaltung, sondern vor allem auf den "inneren" Widerhall im Gemüt des Hörers. Um es vorweg zu nehmen: Diesem Anspruch wird die CD vollauf gerecht.
Bemerkenswert ist zunächst die stilistische Vielfalt des Albums. Das Programm dieses Klavier-Recitals umspannt 165 Jahre Klavierliteratur: von Mozarts a-moll-Sonate (1778) bis zu Bartoks Volkstänzen (rev. 1943). Und einmal mehr gelingt der Pianistin ein programmatisch schlüssiger Brückenschlag mit außerordentlicher philosophischer Tiefe.
Gleich bei Mozart geht Hélène Grimaud rhythmisch und klanglich äußerst raffiniert zu Werke. Mozart stieß mit seiner a-moll-Sonate in neue Ausdruckssphären vor, steht gewissermaßen an der Schwelle zum romantischen Duktus. Hier verbinden sich gedanklicher Ernst und Aufbruchstimmung zu einer treibenden Energie, die Hélène Grimaud auf faszinierende Weise zum Leben erweckt. Unter ihren Händen entfaltet sich das Werk zum ausdrucksstarken Charakterstück.
Alban Bergs einsätziges Erstlingswerk (mit ihm schloss der Komponist die Unterrichtszeit bei Schönberg ab) präsentiert uns die Künstlerin mit kristalliner Klarheit. Dem poetischen, oft elegischen Grundcharakter des Werkes werden dramatische Zuspitzungen gegenübergestellt. Mit klarer Phrasierung vermittelt uns Hélène Grimaud die musikalischen Ideen (und Ideologien) Alban Bergs, baut gewaltige gedankliche und klangliche Bögen, führt uns zum Wesen der Komposition.
Die h-moll-Sonate von Franz Liszt macht besonders deutlich, worin die Faszination von Hélène Grimauds Interpretationskunst liegt. Denn von diesem Werk liegen zahlreiche, vielbeachtete Vergleichseinspielungen vor (Argerich, Pollini, Pogorelich, Vogt, Zimerman). Hélène Grimaud lässt die Sonate klangsinnlich und pianistisch fulminant erklingen. Sie gestaltet ihre Interpretation souverän und mit großem Atem, reiht sich fraglos in die Riege der großen LIszt-Interpreten ein. Die individuelle Qualität dieser Einspielung offenbart sich im Hörvergleich: In vielen anderen Aufnahmen der Liszt-Sonate bleibt - trotz aller Kraft und technischer Virtuosität - eine eigentümliche emotionale Distanz zwischen Werk und Pianist(in) spürbar. Es scheint, als fürchte sich mancher Künstler davor, die emotionale Kontrolle zu verlieren, sich gleichsam am Feuer des Werkes zu verbrennen. Anders Hélène Grimaud: Sie stürzt sich mit aller Hingabe in die Flammen. Es glüht und lodert, die pianistischen Funken sprühen nur so. Bei aller Leidenschaft behält die Pianistin stets den Überblick, findet wieder zu lyrischer Ruhe und Versenkung zurück, um anschließend den nächsten Spannungsbogen aufzubauen. Wie sich das aufgetürmte musikalische Material in der kraftvollen Klimax entlädt, ist schlichtweg überwältigend.
Bela Bartoks Rumänische Volkstänze sind sechs Miniaturen mit starken Bezügen zur Folklore. Jedes einzelne Stück fordert den Pianisten mit ganz eigener Gestik und Rhythmik. Hélène Grimaud kostet den rhythmischen Charme jedes einzelnen Tanzes mit dynamischer Raffinesse aus, die herbe Seite nicht verleugnend. Wunderbar, wie die Pianistin mit den musikalischen Themen kokettiert.
Fazit:
"Resonances" fasziniert durch klangsinnliche und pianistisch fulminante Interpretationen, intensiv und hochemotional. Wieder einmal erweist sich Hélène Grimaud als musikalische Erzählerin, die ein Werk nicht einfach reproduziert, sondern mit der Musik klingende Bilder erzeugt. Sie erzählt von den emotionalen Dimensionen des Lebens – Klangrede im besten Sinne. Das ist es, was mich an Konzerten und Einspielungen dieser Ausnahmekünstlerin immer wieder fasziniert. Auch klanglich ist die CD hervorragend gelungen. Kurz: 70 Minuten Klavier-Glück!