Um ein Haar grandios
Roger Norrington wird als eine Art Speedy Gonzales unter den Dirigenten betrachtet, der sich mit dem Vorurteil konfrontiert sieht, seine Tempi seien generell "verrückt". Nun, sie sind es nicht - nicht alle. Wie bereits die von mir hochgeschätzten Haydn-Aufnahmen mit den London Classical Players belegen, geht er die meisten der Kopfsätze (und auch der Menuette) erfreulicherweise eher gemäßigt an; in den ruhigeren, "langsamen" Sätzen aber, dort drückt er in der Tat so mächtig auf die Tube wie kein zweiter. Womit ich schon bei meinem einzigen, aber nicht unerheblichen Kritikpunkt bin. Denn warum bitte SO schnell? Sir Roger wird seine Entscheidung historisch rechtfertigen können, und dennoch: Während etwa das Adagio der Nr. 102 einen Gutteil seiner Feierlichkeit noch behält, ist eine Gangart, wie sie im Andante der Nr. 101 angeschlagen wird, für mein Empfinden schlicht nicht mehr natürlich, und sie führt dazu, daß der faszinierende, dramatische Ausbruch gegen Ende fast schon vorbei ist, bevor er überhaupt begonnen hat. Ich kapiere es nicht - Thema beendet. Von diesem Wermutstropfen einmal abgesehen, höre ich indes nur Gutes. Norringtons Ansatz mit den Stuttgartern - einem "normalen" Sinfonieorchester, aufgestockt durch zwei sehr laute Naturtrompeten - zeigt, daß ein transparentes, vibratoarmes Spiel auch mit modernen Instrumenten durchaus nicht unmöglich ist, und überzeugt durch schlankeren Klang, höhere Detailgenauigkeit und schärfere Akzente. In den Finalsätzen setzen die Musiker enorme Energien frei, ja manchmal spielen sie dort wie um ihr Leben, mit einem feurigen Elan, der seinesgleichen sucht - das Spiritoso der Nr. 104 hätte mich beinahe vom Sofa katapultiert. Bei den Menuetten besteht der Meister nun nicht mehr auf sämtlichen Wiederholungen, was früher gelegentlich etwas pedantisch wirkte (und bei der Nr. 101 zu einer Spieldauer von über 9 Minuten führte). Mit seiner Eigenart, üblicherweile kurz gehaltene Noten legato spielen zu lassen (falls man das, was ich meine, so nennt), hatte ich noch nie Probleme; die Verwendung eines Orchesterklaviers tut mir ebenfalls nicht weh. Die Bläser läßt er schmettern, die Pauken läßt er knallen - alles wie es sein soll, so wie ich es liebe. Übrigens: Es handelt sich hier um Konzertmitschnitte, inklusive Nebengeräuschen wie Stuhlknarren, Husten und Applaus (zum Glück aber ohne Grunzer des Dirigenten); für eine Live-Einspielung erscheint mir die Präsenz und Trennschärfe dieser Aufnahmen geradezu unglaublich. Und noch ein Lob, nämlich für den äußerst ausführlichen und pointiert geschriebenen Begleittext. -- Habe ich sie also endlich im Regal, alle zwölf Londoner aus ein und demselben Guß; auch wenn Christopher Hogwood und Claudio Abbado für mich als Alternativen unverzichtbar bleiben, weide ich mich nach Kräften an dieser mit Sorgfalt präsentierten, fulminanten, mitreißenden Neueinspielung. Nein wahrlich, trotz Kritik: Vier Sterne wären nicht genug.