Singulär
Herbert von Karajan war sicher kein Schostakowitsch-Spezialist. Angesichts seines umfangreichen diskographischen Vermächtnisses ist die einzige Symphonie, die er von Schostakowitsch eingespielt hat, eine Randerscheinung. Immerhin scheint er zur Zehnten eine gewisse Affinität gehabt zu haben, denn sie liegt auch in einer Altersaufnahme von Anfang der 1980er vor.
Ich bin kein ausgewiesener Anhänger des Interpretationsstils dieses so polarisierenden Dirigenten, aber seine Sicht der Zehnten Symphonie Schostakowitschs überzeugt mich voll und ganz. Das beginnt bei einem sehr subjektiven Eindruck. Die Berliner Philharmoniker haben in dieser Aufnahme mit ihrem dunklen, gesättigten, gewissermaßen melancholischen Gesamtklang wirklich etwas "Russisches". Besonders deutlich wird das in den langsamen klagenden Passagen, etwa zu Beginn des Kopfsatzes oder des Finales, vor allem auch in den exzellent disponierten Holzbläsern.
Hinzu kommt eine - so finde ich - für Karajan nicht unbedingt typische Bereitschaft zur Härte und Drastik. Es gibt Momente in diesem großen Werk, etwa die fulminante Steigerung im Kopfsatz oder die Klimax im dritten Satz, die wenigstens mir nur dann wirklich unter die Haut gehen, wenn sie dynamisch und in Bezug auf ihre Ausdrucksmöglichkeiten bis an die Grenze ausgereizt werden. Das ist bei dieser Aufnahme hier der Fall. Karajan geht bis an die Grenze, schrill, Dissonanzen auskostend, gewalttätig, aber dem Kontext angemessen. Das Scherzo, das berühmte - mögliche - Stalin-Portrait, gelingt gleichfalls hervorragend, wahnwitzig schnell, getrieben, und das - vermeintlich? - jubelnd-gelöste Finale hört man selten virtuoser. Sicher, Kondraschin stellt das alles noch ein gutes Stück zugespitzter dar, gibt beispielsweise dem Finaljubel eine quasi wahnsinnige Note, Mrawinski, der Uraufführungsdirigent, ist im Scherzo noch ein wenig schneller und bissiger, aber die frühe Karajan-Aufnahme ist außerordentlich hörenswert und auch zum Einstieg in die symphonische Welt Schostakowitschs geeignet.
Klangtechnisch bleibt diese Einspielung aus den späten 1960ern etwas hinter der späteren Aufnahme zurück, die mehr Volumen und Basssubstanz hat und noch weniger rauscht, aber Dynamik, Räumlichkeit, Transparenz und Bühne reichen allemal aus und übertreffen gerade die genannten sowjetischen Aufnahmen - leider - deutlich. Das Begleitheft enthält einen Einführungstext zum Werk, leider keine Informationen zu Karajans Auffassung von dieser Symphonie. Insgesamt eine klare Empfehlung!