Ein packender Einstieg in eine Trilogie, voller Magie und charismatischer Figuren
Vic James hat für ihren Roman eine düstere Welt geschaffen, die nah genug an unserer eigenen Erfahrungswelt liegt, um Identifizierungsmöglichkeiten zu bieten, und doch völlig anders ist. Sie ist bestimmt durch das „Geschick“, eine Form von Magie, die jedoch nur wenige, die sogenannten Ebenbürtigen, besitzen. Dieses Geschick ist von Ebenbürtigen zu Ebenbürtigen unterschiedlich ausgeprägt und verleiht diesen eine gefährliche Macht. So muss in dieser Welt jeder Geschicklose eine zehnjährige Sklavenzeit im Dienste der Ebenbürtigen absolvieren …
Die Autorin überzeugte mich bereits im Prolog, der Erzählung einer Flucht, durch ihre mitreißende Erzählweise. Ganz schnell fieberte ich mit den Figuren mit, obwohl mir diese in diesen Zeilen zum ersten Mal begegneten. Diese Faszination für die Handlungspersonen zog sich für mich durch das ganze Buch und dennoch hatte ich, bedingt durch die Wahl der Erzählung in der dritten Person, das Gefühl, dass mir die wahren Gefühle und Beweggründe der Personen oft verborgen blieben. Gerade das fand ich sehr spannend, denn die Autorin ist eine wahre Meisterin darin, vielschichtige Charaktere zu schaffen, die betörend und rätselhaft wirken, denen man einfach alles zutraut und die sich glücklicherweise auch nicht stupide in „die Guten“ und „die Bösen“ einteilen lassen …
Besonders geheimnisumwittert und dadurch herrlich unheimlich sind die ebenbürtigen Brüder Gavar, Silyen und Jenner Jardine. Noch mehr gefiel mir jedoch die Darstellung der geschicklosen Renie, ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, das ganz allein in einer Sklavenstadt lebt und dort nach Kräften versucht, die Welt weniger trostlos zu gestalten - ein bisschen erinnerte sie mich mit ihrer Energie trotz aller widrigen Umstände an Pippi Langstrumpf, nur dass Renies Welt sehr viel grauer aussieht ... Noch viele weitere interessante Charaktere wären erwähnenswert, denn die Handlung in diesem Roman ruht nicht nur auf den Schultern einiger weniger Figuren.
Die Romanwelt, zu der auch ganz nebenbei Informationen über ihre Geschichte und die Entwicklung in anderen Ländern eingeflochten werden, wird meines Erachtens sehr stimmig und leider sehr realistisch dargestellt. Wenn man bedenkt, wie lange sich auch ohne das „Geschick“ mit seinen grauenvollen Möglichkeiten, anderen Menschen Schaden zuzufügen, in Europa beispielsweise die Leibeigenschaft hielt, ist es leider nicht verwunderlich und ich finde es auch verständlich, dass die meisten Geschicklosen nicht den Mut finden, sich gegen die Sklavenzeit auflehnen ... Umso mehr hat es mich gefreut, dass im Zentrum der Handlung unter anderem eine kleine Gruppe von Menschen steht, die dennoch keineswegs gewillt sind, dieses Gesellschaftssystem einfach hinzunehmen, denn „keine Magie ist mächtiger als der Geist des Menschen“ (S. 269) …
Diese Zweiteilung der Welt in Geschicklose und Ebenbürtige wird auch durch die beiden Handlungsorte Millmoor und Kyneston, zwei im Übrigen jeder auf seine Art sehr beeindruckende Kulissen, widergespiegelt. Während Kyneston das schillernde Anwesen der Jardines, einer vermögenden, leicht gruseligen Familie Ebenbürtiger, darstellt, bildet Millmoor eine düstere Fabriklandschaft, in der die Sklaven schwere körperliche Arbeit leisten müssen.
Die Situation der Sklaven hat mich überrascht – angesichts der Macht der Ebenbürtigen, der Rechtlosigkeit der Geschicklosen und meiner eigenen Erfahrungen in der Arbeitswelt hätte ich noch deutlich mehr Machtmissbrauch erwartet. Zwar kommt es in der Tat immer wieder zu schrecklichen Misshandlungen, doch ähnelt die Situation der Sklaven erschreckenderweise oft auch einfach der Situation einiger unterdrückter Arbeitnehmer in unserer Welt – ich könnte mir vorstellen, dass das durchaus so gewollt ist …
Die Erzählweise war für mich als Fan alter Klassiker mit zahlreichen Beschreibungen anfangs ein bisschen gewöhnungsbedürftig – die Autorin konzentriert sich auf Highlights und lässt manches im Unklaren und im Geheimnisvollen. Dies regt natürlich dazu an, in Lesepausen immer wieder über das Buch nachzudenken und die wildesten Theorien zu entwickeln – und dieser Effekt gefiel mir schließlich sogar richtig gut. Auch hat es mich sehr beeindruckt, wie es Vic James gelingt, in wenigen Sätzen beispielsweise die ganze Tragödie eines schädigenden Vater-Sohn-Verhältnisse darzustellen, das fand ich einfach brillant!
Für das Ende hatte ich mir zwar etwas anderes erhofft, aber ich muss der Autorin zugestehen, dass sie auch hier ihre Erzählkunst unter Beweis und gute Weichen für die Folgebände stellt, die ich nun mit Spannung erwarte …