Ganz schön knifflige Aufgabe: wie kann ein Album vorgestellt werden, das in den letzten Tagen einen positiven Shitstorm (wie könnte so was heißen? Vielleicht “Goldblizzard”?) erfuhr und derzeit “überall” rezensiert wird, weil es ein paar Wochen vor Ersche
Wären wir bei der Regenbogen-Presse, würde hier vielleicht “Das Album zur Trennung” stehen. Wird aber nicht so sein – schliesslich haben wir nicht nur einen guten Geschmack, sondern auch Manieren. Deshalb steht hier was Anderes. Auch wenn BJÖRK “Vulnicura” als “Complete Heartbreak Album” bezeichnet hat. Sie darf das, es ist ja schießlich IHR Album.
Nach dem grossen und musealen “Bibliophila'” mit schwer zu transportierenden, eigens für das Projekt gebauten Instrumenten und einem naturwissenschaftlichen Anspruch steht dieses Mal eindeutig die Person BJÖRK wieder mehr im Mittelpunkt. Das Ganze erinnert ein wenig an “Vespertine”, bei dem die Künstlerin mehr als zuvor persönlich und intim wirkte, nachdem es in ihrer kriselte, namentlich weil sie von Regie-Gott Lars von Trier während der Dreharbeiten zu “Dancer in the dark” psychisch gequält wurde (um das mal etwas salopp in einem Satz zusammenzufassen). Auch das Gekratze und Geknistere in den Songs erinnert an das vierte Album, während Streicher, Elektronik-Loops und Anthony Hegarty ein Kabinett an schönen Sounds kreieren. Ich weiss nicht, wie gross letztendlich der Einfluss von Arca war: die Produktion als Gesamtbild ist toll, da sie eine gelungene Balance zwischeen der Präsenz von BJÖRK und ihrer – bildlich gesprochenen – Kathedralen erzeugenden, nach wie vor äusserst eigentümlichen Stimme mit interesssantem Slang, zwischen teilweise derber (insbesondere im zehnminütigen “Black Lake” und manchmal zarter Elektronik sowie natürlich den Streichinstrumenten findet. Björk erwähnte in Interviews, Arrangements von Streichern schreiben sei für sie eine gute Ablenkung und Aufgabe nach der Trennung von MB gewesen. So toll wie “Vulnicura” klang die Musik der Isländerin vielleicht seit “Homogenic” nicht mehr., welches mein Lieblingsalbum von ihr ist, da es ganz klar von ihrer Person getragen wird, während es gleichzeit stylish und künstlich wirkt. Trotz des Einbringen der Privatspähre ist Letzteres auch wenigstens teilweise auf “Vulnicura” so.
Neu ist die Arrangierung der neun Songs als Tryptichon: behandelt werden die Zeiten vor, während und nach der Beziehung, sowie die Thematisierung von Wut, Hoffnung, Trauer, Aufgabe und Wiedergeburt (natürlich nicht im religiösen Sinne). Insbesondere der Mittelteil wirkt wie eine Umsetzung des geöffneten Körpers vom BJÖRK-Bild auf dem aktuellen Plattencover: hier schlägt das verletzliche Herz, hier passiert’s, hier schmerzt es am meisten: “My shield is gone, my protection is taken, I am one wound.”
Auch Zeilen wie “The history of touches, every single archive compressed into a second” sowie BJÖRK’s Klage über den Zerfall und Tod ihrer geliebten Familie erzeugen Gänsehaut. Die Worte sind nicht kompliziert gewählt und einfach zu verstehen, sie sind weit weniger komplex als die Musik, wobei Worte und Musik einen interessanten Spagat beim Hören auslösen, da sowohl Gefühle wie auch Gedanken direkt und deutlich angesprochen werden.
Bisher wurden BJÖRK-Veröffentlichungen fast immer im Vorfeld mit etlichen Nebenschauplätzen wie Ausstellungen, APPs und massiver Werbung unterstützt. Natürlich ist es keine schöne Sache, wenn das Album ohne Wissen und Wunsch von BJÖRK viel zu früh zu hören war, aber vielleicht ist es ganz gut, wenn sich das Album ohne Tamtam im Vorfeld pur präsentiert. Gerade bei den letzten Alben “Volta” und “Bibliophila” gab es in dieser Richtung ganz schön was auf Augen und Ohren. Allerdings sind das zwei Alben, die thematisch sehr interessant sind und mit Sicherheit viel mit der Künstlerin, aber nicht unbedingt so viel mit der Person BJÖRK zu tun hatten, während auf “Vulnicura” (siehe “Vespertine”) ihr Innenleben erfahrbar wird.
Deswegen (und auch wegen der Musik) ist das Album nicht leicht “nebenbei” zu hören, und dient schon mal gar nicht zur Raumverschönerung, was bei “Debut” auf jeden Fall und bei “Post” und “Homogenic” noch teilweise funktionierte – wenn jemand das so wollte.
Am besten lässt sich “Vulnicura” alleine, mit Kopfhörern, auf einem schönen, spartanischen, aber nicht unbequemen Holzstuhl anhören.
Der kann zum Beispiel auf einer Waldlichtung oder in einem grossen, leeren, weissen Raum eines Museums stehen.
Funktioniert beides gut.