mutiger Scherchen, freier Beethoven - und leider verstümmelter Mahler ...
**** Beethoven Neunte (1965) - Mutiger Scherchen, freier Beethoven
Die Mailänder Aufführung der Beethoven Neunten von 1965 ist sehr verschieden von der neun Jahre früher entstandenen Studioaufnahme von 1953 aus Wien, die fast 11 Minuten länger dauerte. Damals führte Scherchen in Wien Beethoven eher in „bedächtigen“ Tempi auf, die weit unter den Angaben Beethovens standen. Auch die Aussage ist in eine eher statische Form gegossen. Schon zu dieser Zeit war Scherchens Beethoven-Bild eigentlich ein anderes (siehe die RPO-Aufnahmen!), besonders was die Tempi anbetrifft. In diesem Fall der Neunten hier sind aber die Grundtempi gar nicht das Besondere, sonder der viel freiere Umgang mit diesen. Mit ein Grund dafür mag sein, dass es sich um den Mitschnitt einer Live-Aufführung handelt und um keine Studioproduktion, die bekanntlich ja tendenziell bei den meisten Dirigenten etwas steifer ausfallen.
Scherchen liegt auch 1965 mit dem Grundtempo ca.72 noch 20% unter Beethovens Angabe (88) für den Kopfsatz, ebenso im Adagio/Andante mit ca. 50/56 (Beethoven (60/63). Das Scherzo ist mit ~120 allerdings sogar noch etwas treibender als von Beethoven mit 116 notiert, das Trio liegt sogar bei ~172 abstelle von 116! Das einleitende Presto des Finalsatzes ist extrem schrill und chaotisch. Aber genau DAS wollte Beethoven da ja auch wohl erreichen... Das Allegro assai des Finales mit den vielen Tempobezeichnungen beginnt mit 60 (Beethoven 80), noch langsamer als in der Wiener Aufnahme, um dann doch auf 76 anzuziehen. Das Allegro assai vivace (alla Marcia) beginnt mit 52 und acceleriert auf 62 (Beethoven 84), das Andante maestoso ist mit 54 ebenfalls deutlich breiter als Beethovens Angabe (72). Hier auf einzelne Tempi einzugehen würde den Rahmen dieser kleinen Besprechung sprengen. Außerdem muss man das Ergebnis der vielen (zu) langsam, mancher (zu) schnell, der Accelerandi usw einfach HÖREN! Dem einen erschließt sich das als stimmig, dem anderen nicht. Wenn auch manche Details für mich nicht ganz zwingend schlüssig klingen, so ist alles(!) eine äußerst persönliche feurige Umsetzung mit allem Herzblut.
Nebenbei: Der Bassist Raffaele Arie hat natürlich deutlich mehr zu bieten als Richard Standen in der Aufnahme von 1953.
Der neue Digitaltransfer der Mono-Bänder ist sehr gut gelungen, wenn auch mit deutlicher zu starker Betonung der tiefsten Bass-Frequenzen.
** - *** Mahlers (?!?) Fünfte – leider völlig verstümmelt
Ja was soll man da sagen – ein Kuriosum… Scherchen war einfach der ultimative Querkopf, noch extremer als Klemperer - z.B. Letzteren Eigenkomposition der Koda von Mendelssohns Schottischer (anstelle des A-Dur-Hymnus) oder die radikalen Streichungen im Finale in der Bruckner Achten.
Das Scherzo in Mahlers Fünften von 17 Min auf gute 5 Min herunter zu streichen ist einfach jenseitig sinnlos. Das Adagietto von 8 bis maximal 10 Minuten Spielzeit auf über 13 Min auszudehnen grotesk (es ist ja nicht mit „largissimo“ überschrieben). Der zweite Satz beginnt furioser als Bruno Walter in der CBS-Platte von 1945 (fantastisch!), um in dem schmachtenden Gesangsteil dann langsamer als Barbirolli und Wyn Morris (beide ebenfalls großartig!) zu werden. Im Finale wird dann auch kurzerhand ein Drittel weggelassen.
Fazit:
Von Mahler Konzeption quasi zweier Kopfsätze (einer mehr davon Exposition, der andere mehr Durchführung), dann einem riesiges Scherzo als Zentrum der Sinfonie, dann einer dritten Abteilung mit „einleitendem“ Adagietto zu einem großen überbordenden Fugatofinale ist NICHTS übrig geblieben. Dafür haben wir zwei extrem zerklüftete Eingangsätze, "so ne Art Anfang von Scherzo" (war da was?), ein langes und zerdehntes Largo (weil nicht als solches gedacht) und ein völlig amputiertes Finale. Natürlich wird sehr ernsthaft und äußerst engagiert musiziert, Scherchen gibt sein Herzblut und die Musiker wachsen in der Furiosität über sich hinaus (2tes Satz, Schluss des Finales!) – aber WOZU DAS ALLES?!
Im Grunde ist die Aufführung einfach nur GROTESK – etwas für eine weinselige Stunde mit einem Mahler-Freund – also eine Art Spaß „(un)musikalischer Spaß“ oder „Foster Jenkins auf Orchester“. Aber ab einem gewissen Alter bleibt einem das Lachen über so etwas vielleicht doch im Halse stecken ... Na, dann halt als Lehrstunde höre - aber: WOFÜR? Dass auch ein großer Dirigent sich völlig verrennen kann? Vielleicht hatte diese Aufführung damals für die Mahler-Rezeption in Italien ihr Berechtigung - in dem Sinne wie Bruckner die Aufführungen zu seinen Lebzeiten sah ("Hauptsache aufgeführt, wie auch immer - aber dafür nur in reiner Form der Nachwelt hinterlassen!")... Aber ob MAHLER so eine Verstümmelung bei einer Aufführung akzeptiert hätte ?
Vielleicht gibt es ja doch etwas aus dem Ganzen zu lernen: Nicht jeder Mitschnitt eines Konzertes sollte auch der Nachwelt als CD präsentiert werden - schon aus Pietätsgründen ;-)
Das Orchesterspiel in Mahlers Fünfter ist teilweise ganz unglaublich: Scherchen konnte Musikern wirklich alles entlocken! Dafür ist bei der Fünften der quasi dritte Stern...