NOCH ANACHRONISTISCHER . . .
. . . als die Doppel-CD mit Musik von und mit dem Komponisten Pianisten Dirigenten Enguerrand-Friedrich Lühl-Dolgorukiy ist seine hier vorgestellte CD 'Transkriptionen und Paraphrasen für Klavier' (Spielzeit 56 Minuten). Wenn es schon schräg ist, dass ein Komponist heute allen Ernstes im 'Vor-Mahler'schen' romantischen Stil komponiert, so ist es noch befremdlicher, dass im 21ten Jahrhundert quasi Liszt'sche Klavierparaphrasen entstehen. DIE sind aber äußerst überzeugend gelungen! Aber was bringt es, sich den Kopf darüber zu zerbrechen oder gar den Zeigefinger zu erheben. Ich bin der Meinung, dass allein das erzielte Ergebnis (und manchmal sogar nur die Absicht oder Idee dahinter) zählen sollte!
Ob Enguerrand-Friedrich Lühl-Dolgorukiy als Komponist vor dem Lauf der Geschichte Bestand haben wird, wage ich nicht zu prophezeien. Diese Paraphrasen könnten aber ins Standardrepertoire von Pianisten eingehen, welche gerne das Instrument ausreizen möchten, reine Freude am Pianistischen haben oder die originalen Orchesterwerke Berlioz oder Liszt so sehr schätzen, dass Sie gerne diese pianistischen Schlaglichter darauf spielen.
SCHUBERT
Wie oft ist dieser Militärmarsch schon verarbeitet worden, von harmlos bis Strawinsky. Bei Lühl kommen jazzige (oder eher swingige) Elemente dazu. Irgendwie ist das schon amüsant, so in der Art, wenn die Schauspielerin Rutherford alias Miss Marple 'Boogie' (oder was das immer sein soll) tanzt. Will sagen: etwas angestaubt kurios liebeswert.
BERLIOZ
Die Paraphrase zu 'Romeo et Juliette' greift die Orchestereinleitung auf, um dann schnell ziemlich ans Ende des Werks zu springen. Dieses Werk ist mir bei aller Freude am Zirzensischen etwas zu sprunghaft.
Verblüffend ist die gelungene Klangkombination, um den Klang der Glocken im Finale der 'Symphonie Fantastique' real klingen zu lassen. Die fünfeinhalb Minuten Finale erscheinen mir eine überzeugende Berlioz-Beschäftigung mit einem klaren Abbruch. Das Herausgreifen eines musikalischen oder klanglichen Gedankens hat hier wirklich etwas Konsequentes und Modernes.
Auch die Paraphrase über 'Harold en Italie' ist sehr interessant und kompositorisch noch eigenständiger. Die hat das Zeug, die Zeiten zu überdauern.
LISZT
Gedanken über den Kopfsatz der 'Dante-Sinfonie'. Was soll ich sagen: mein Verhältnis zu Liszt ist seit je her zwiegespalten. Ich schätze die Faust-Sinfonie ungemein, aber mit der Dante bin ich noch nicht warm geworden. Jedenfalls ist die Paraphrase im besten Liszt'schen Stil geschrieben. Sehr mutig und gut finde ich die abrupten Schlüsse der Paraphrasen bei Liszt und der Fantastique.
MAHLER
Angesichts des Hörens des Kopfsatzes der Mahler Fünften wächst noch meine Faszination an Mahlers eigenem Klavierspiel von 1905 (am besten in der Überspielung 'Gustav Mahler und sein Klavier' ASIN B0038JY8LC hören!). Was Mahler da an unterschiedlichen Empfindungen von Trauer, Wehmut aber auch irrlichternder Hysterie zaubert, ist ganz subtil. Alles ist quasi improvisierend angedeutet, und dennoch ein hoch artifizieller verwaschener Orchesterklang. Noch niemals habe ich eine Pianisten auf solche Weise ein Orchester darstellen gehört. Zudem mit einer seltsamen Disziplin 'nüchterner' Zurückhaltung und dadurch berührt das Werk noch umso stärker. Es ist, wie wenn uns ein Mensch einen schrecklichen persönlichen Schicksalsschlag erzählt und eigentlich nicht fähig ist, wirklich darüber zu sprechen oder das Geschehene nur andeuten kann. Und das Ganze wird noch durch die doch begrenzte Technik der Klavierreproduktion hörbar. Die Einspielung Mahlers ist übrigens eine digitale CD, da die 'Einspielung' Mahlers auf dem Reproduktionsklavier ja jederzeit 'live' wiedergegeben werden kann. Dazu mehr auf meiner Besprechung der CD 'Gustav Mahler und sein Klavier'.
Da kommt die (vierhändige?) Version auf dieser CD nicht mit ' trotz (oder gerade wegen?) der größeren Fülle an Stimmen. Es ist dennoch eine gute Aufführung, klar und durchsichtig mit stimmigen Proportionen. Ihr fehlt lediglich das ganz besondere Flair der eigenhändigen Aufnahme des Komponisten.
Das Adagietto überzeugt, auch wenn ich glaube, dass dieses Liebesstück an Alma auf Klavier (sicherlich nicht das geeignetste Instrument für diese Streichermusik) noch intensiver klingen könnte.
SKRIABIN und DEBUSSY
Diese letzten vier Werke sind höchst eigenwillig: Schon allein die Idee, diese beiden Komponisten zu paraphrasieren, die doch jenseits der Zeit gelebt haben, in der so etwas üblich war, vielleicht mal von Busoni abgesehen. Skriabin pianistisch 'zu- bzw. aufbereitet', Debussy quasi 'synthetisiert'.
EDITION UND KLANG
Das Textheft ist wie bei der Mahler-CD auch hier leider nur auf Französisch und Englisch, was hier ebenso angesichts der vielen Informationen wirklich schade ist.
Auf der Rückseite ist ja angegeben, welcher der drei Pianisten jeweils welche Stücke spielt. Ich staune ob der Mutanten, die es anscheinend mittlerweile in dieser Zunft gibt ' drei oder vier Arme ' Die ersten musikalischen Erfolge der Genmanipulation? Anders gesagt: Ich denke, dass diese Angaben nicht so recht stimmen, da für meine Ohren da manches drei- oder vierhändig gespielt wird, angeblich aber jedes Stück von einem Pianisten gespielt wird.
Falsch ist definitiv die Angabe bei Mahler: natürlich erklingt zuerst der Kopfsatz der Fünften und dann das Adagietto.
Die Aufnahmen klingen natürlich und tendenziell direkt.
DAS FAZIT
Eine CD mit Transkriptionen und Paraphrasen ist nicht so eine 'Glaubens- oder Weltanschauungssache' wie das Unterfangen von Lühls (fast) reiner Mahler-Doppel-CD. Die Paraphrasen finde ich überzeugend und die Transkription der zwei Sätze der Fünften Mahler grundsolide und angemessen gelungen. Diese CD ist durchaus etwas für Neugierige und Freunde abseitiger Klavierliteratur.
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