Die Macht des Silbers – ein düsteres und extrem spannendes Fantasyabenteuer
„Wie viele Stunden hast du bereits in deinem Leben verstreichen lassen? Wie viele sind dir wie Sand zwischen den Fingern zerronnen, ungenutzt geblieben und vergeudet worden?“ (S. 102)
„Léo war in etwas hineingeraten, das er nicht verstand. Aber es war zu spät, sich dem Geheimnis zu entziehen. Längst war er von einer nie gekannten Abenteuerlust angesteckt worden.“ (S. 125)
Meine Meinung:
Akram El-Bahay hat sich in meinen Augen innerhalb weniger Jahre zu einem der wichtigsten deutschen Autoren für phantastische Kinder- und Jugendliteratur entwickelt. Nach „Flammenwüste“, „Henriette und der Traumdieb“, der „Bibliothek der flüsternden Schatten“ und „Wortwächter“ legt er mit „Herzenmacher“ einen neuen Fantasy-Roman für junge und junggebliebene Leser ab ca. 12 Jahren vor.
Diesmal entführt er uns in das südfranzösische Bergdorf Briançon – und dazu gleich noch in eine fantastische Spiegelwelt. Gekonnt verwebt er hierbei klassische Märchenmotive mit einer modernen Fantasygeschichte – allerdings mit einer sehr düsteren Grundstory. Bereits auf Seite 21 betritt man diese verwunschene Parallelwelt zusammen mit dem herzensguten Protagonisten Léonce „Léo“ Mellino, der einen geheimnisvollen Fremden dorthin verfolgt hat. Doch viel Zeit zum Innehalten und Bestaunen dieser einerseits ähnlichen und andererseits doch wieder so gänzlich anderen Welt bleibt weder Léo noch dem Leser. Sehr schnell nimmt die Gefahr auf dieser Seite konkrete Formen an und es gibt die ersten Todesopfer der Geschichte zu beklagen. Hier zeigt sich schnell der düstere Charakter dieses modernen Märchens. Hier wird durchaus aufgeknüpft und enthauptet! Dennoch verliert Akram El-Bahay niemals das Alter seines Publikums aus den Augen, so dass man keine Angst vor allzu grausamen Szenen haben muss.
Die Geschichte selbst hat mich von Beginn an vollends in ihren Bann gezogen und vom ersten Kapitel bis zur letzten Seite durchgängig gefesselt (Gänsehaut-Finale!). Sie besticht dabei neben ganz wunderbaren Charakteren (die sogar wie z.B. Kafir oder auch Silbermund stellenweise für wohl dosierten Humor sorgen), durch immer wieder überraschende Wendungen und unglaublich atmosphärische Settings, angefangen vom doppelten Briançon, über einen hoch aufragenden Hexenturm, einen tief gebauten unterirdischen Zwergenbahnhof bis hin zu den Sehenswürdigkeiten einer weltberühmten Stadt. Der Autor versteht es ganz hervorragend, bei seinen Lesern die phantastischsten Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Hinzu gesellen sich noch viele kleine, liebevolle Detailausschmückungen dieser Welt, wie etwa die Feuermotten oder Schattenspiegel. Sehr gefreut hat es mich auch, dass Akram El-Bahay Léo im Verlauf der Geschichte auch noch eine ganz starke und wunderbare weibliche Protagonistin zur Seite gestellt hat.
Aber nicht nur die Geschichte weiß voll und ganz zu überzeugen, auch der Schreibstil und die immer wieder mitschwingenden Botschaften machen dieses Buch zu einem absoluten Leseerlebnis. Scheinbar mühelos spielt Akram El-Bahay mit der Sprache, nutzt sie, um mit ihrer Hilfe wortmalerische Bilder entstehen zu lassen („Es war ein leises Lachen, so kurzlebig wie die Schneeflocken, die mit dem Wind in das warme Zimmer schwebten.“ - S. 150 / „Der Mond über ihnen stach wie ein Auge aus der Finsternis, und der Himmel war mit Sternen übersät, als würden sie auf ihm wachsen wie Blüten auf dunklem Gras.“ - S. 206). Dazu finden sich auch immer wieder kleine Weisheiten, mal mehr, mal weniger versteckt, die diesem Buch eine gehörige Portion Tiefgang und eine stellenweise schon lyrische Anmutung verleihen („Ich habe begriffen, dass der Schmerz etwas ist, das von selbst gehen muss, und nichts ist, vor dem man fliehen sollte.“ - S. 372 / „Selbstlosigkeit ist ein Schlüssel, der oft passt.“ - S. 369).
Dies alles macht dieses moderne Märchen zu einer Geschichte über ethische Fragestellungen, über die Kraft der Liebe und zu einem Plädoyer für den Mut zur Vergebung. Sowie gleichsam zu einer Parabel darüber, was mit einer Welt geschieht, wenn der persönliche Komfort über das Wohl aller gestellt wird…
FAZIT:
Ein kleines Meisterwerk der modernen phantastischen Literatur – eines meiner Lesehighlights der letzten Monate!