Schockierend schön
Inhalt:
Lena lebt in Nordamerika. Die dunklen Zeiten, in denen die Gefahren von Liebe noch nicht erkannt wurden, sind längst vorbei. Heute gilt Amor deliria nervosa als die gefährlichste Krankheit überhaupt. Doch die Wissenschaft hat Mittel und Wege gefunden, die Krankheit zu heilen. Mit Vollendung des 18. Lebensjahres wird bei jedem Menschen ein Eingriff am Gehirn vorgenommen, der verhindert, dass die Krankheit ausbrechen kann.
Noch 95 Tage sind es für Lena, bis zu ihrem Eingriff. Sie freut sich darauf, denn dann kann sie endlich normal sein. Ihr bisheriges Leben war überschattet vom Selbstmord ihrer Mutter, die sich mit der tötlichen Krankheit angesteckt hatte. Und so war Lena ein gezeichnetes Kind. Als dann auch die Evaluierung zur Feststellung des zukünftigen Ehepartners alles andere als gut verläuft, schwindet jede Hoffnung.
Doch dann begegnet sie Alex und die Welt steht Kopf, denn er zeigt ihr eine andere Sicht auf die Dinge als die, die sie kennt. Und langsam beginnt Lena daran zu zweifeln, ob die Zukunft ohne Gefühl und Sehnsucht für sie noch wünschenswert ist. Und je mehr sie über diese Welt erfährt, desto näher rückt die Gefahr.
Bewertung:
Idee:
Die Vorstellung in einer Welt zu leben, in der Liebe nicht erwünscht ist, in der Gefühlsregungen, Träume und Sehnsüchte keine Rolle spielen, scheint nicht möglich. Doch Lauren Oliver gelingt es, die grausame und abartige Welt zu erschaffen. Auf eindrucksvolle Weise vermag sie es, die Kälte der Geheilten für den Leser greifbar zu machen. Dabei spielt die Institution Staat eine herausragende Rolle: Die medizinischen Maßnahmen, die Razzien, die Ausgangssperren erzeugen einen bitteren Beigeschmack. Nordamerika ist ein Überwachungsstaat geworden. Aber besonders das vorgefertigte Denken der Menschen, gestützt durch erzieherische Maßnahmen und Zensur schockiert.
Charaktere:
Lena, die schon immer als Außenseiterin galt, kämpft in dieser gefühlsarmen Welt um Anerkennung. Sie wünscht sich nichts sehnlicher als dazuzugehören. Doch leider steht ihr Freigeist ihr immer wieder im Weg: “Ich finde das Meer schöner, wenn es grau ist. Oder nicht richtig grau. Eine blasse Zwischenfarbe. Es ist wie wenn man darauf wartet, dass etwas Schönes passiert” (S. 67). Und so versucht sie sich einzureden, dass alle Maßnahmen der Regierung doch nur zu ihrem Schutz geschehen. Der innere Zwiespalt wird noch verstärkt, als sie Alex kennenlernt. Er ist anders, seine Augen leben. Das kennt Lena von Geheilten nicht.
Lena und Alex sind sehr sorgsam gezeichnete Romanfiguren, deren Verhalten authentisch wirkt. Besonders Lena überzeugt, da sie als ein Teenager agiert, der seinen Platz in der Gesellschaft sucht, die von ihm erwarteten Verhaltensweisen umsetzt und doch innerlich daran immer wieder scheitert. In ihr Kämpfen die vorgefertigte Sicht, die sie sich lange schönredet, mit der bestechenden Logik ihres Denkens. Aber besonders die Verhaltensweisen ihres Umfeldes, besonders ihrer Familie, wecken unterschiedliche Gefühle beim Leser: Mitleid, Ärger, teilweise Wut, und manchmal war ich einfach nur schockiert.
Sprache und Stil:
Das beeindruckende an Delirium ist, dass hier nicht nur die Idee fasziniert, sondern sprachlich wundervoll umgesetzt wurde. Lauren Oliver überzeugt durch den Aufbau ihres Romans, der Stück für Stück, die Figuren, den Hintergrund und die Handlung preisgibt. Das Thema würde alleine genügend Spannung erzeugen, doch der bevorstehende Eingriff, der die Handlung trägt, führt zu einer Daueranspannung beim Leser, die durch Lenas Zweifel zusätzlich verstärkt wird. Die dauerhafte Beobachtung und Bedrohung durch den Staat geht ebenfalls nicht einfach so an der Gefühlswelt des Lesers vorbei.
Zudem bedient sich Oliver einer angenehm geistreichen aber dennoch jugendlichen Sprache: “Manchmal, wenn man Dinge einfach betrachtet, wenn man einfach still dasitzt und die Welt existieren lässt – dann ich schwöre es, bleibt die Welt manchmal für einen winzigen Augenblick stehen und die Welt hält in ihrer Drehung inne. Nur einen Augenblick lang. Und wenn es eine Möglichkeit gäbe, in diesem Augenblick zu leben, würde man ewig leben” (S. 148).
Gekrönt wird dieser Roman übrigens durch das Ende, welches eben nicht alles in einem wunderbaren Licht darstellt. Dieses Ende schmerzt und lässt dennoch genügend Spielraum für den nächsten Teil, den ich sehnsüchtig erwarte.
Fazit
Ein wundervoller geistreicher und zugleich packender Roman, den ich wärmstens empfehle.