Eine bewegende "Tränenperle"
Wäre mir das Buch von einer Bekannten nicht sehr dringend empfohlen worden, hätte ich es wohl nie gelesen. Denn das Cover spricht mich gar nicht an. Obwohl es, wie auch der Titel, zum Buch paßt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Aber das wird erst verständlich, wenn man auf der letzten Seite angekommen ist. Bis dahin sind es derer 344, die Schönes, aber auch viel und teilweise unsägliches Leid beinhalten.
Merle kommt aus schwierigen Verhältnissen. Die alleinerziehende Mutter hat sie nie gewollt, und an einem Weihnachtsabend denkt Merle an Selbstmord, als es an der Tür klingelt. Eine Frau hat einen Hund überfahren, fragt nach Hilfe und verschwindet. Merle bringt den schwer verletzten Hund zu einer Tierarztpraxis, wo er aber nur noch tot ankommt. Den Hund begraben geht nicht, da der Boden gefroren ist. Also steigt Merle kurz entschlossen zu Johannes, dem Tierarzthelfer, ins Auto und macht sich auf den Weg nach Süddeutschland, wo das Wetter noch warm ist.
Was hier vielleicht etwas seltsam und unwahrscheinlich klingt, liest sich im Buch wie die selbstverständlichste und natürlichste Sache der Welt. Aber ob es für sie nicht vielleicht das Falsche ist, den „Hund zu begraben“ anstatt sich ihm zu stellen, ist eine Frage, die zu diesem Zeitpunkt in weiter Ferne liegt.
Auf dem Bauernhof angekommen, ist Merle krank und hat hohes Fieber. Als sie wieder genesen ist, wird ihr angeboten, ein halbjährliches Praktikum zu absolvieren. Daraus wird schließlich ein Berufswunsch und sie beginnt bald eine offizielle Lehre. Während sich ihre äußeren Verhältnisse also drastisch verbessern, nicht zuletzt auch durch den Kontakt zur Familie des Nachbarhofes und deren ältestem Sohn Simi, dauert es nicht lange, bis sich die Dämonen des alten Lebens wieder melden. Minderwertigkeitsgefühle bis hin zu Selbsthaß und buchstäblicher Selbstzerstörung kämpfen mit den veränderten Umständen und gewinnen mehr und mehr die Überhand. Dabei erfahren wir langsam mehr aus Merles Lebensgeschichte und weshalb sie so wurde, wie sie ist.
Mit einem unglaublichen Einfühlungsvermögen hat die Autorin diese Abwärtsspirale, ihre Gründe und Auswirkungen - innerlich wie äußerlich - so nachvollziehbar beschrieben, daß man als Leser gar nicht anders kann als mitleiden. Manchmal möchte man Merle ob ihrer destruktiven Gedanken und Handlungen schütteln und ihr zurufen „Mensch, Mädchen, was machst du denn da!“, dann wieder wundert man sich, weshalb in der direkten Umgebung so wenig von ihren Problemen wahrgenommen wird. All das ergibt eine Mischung, die der Realität extrem nahe kommen dürfte und einem vielleicht die Sinne schärft, ähnliche Entwicklungen im eigenen Umfeld zu erkennen.
Das Buch ist in einem sehr gut lesbaren Stil geschrieben. Ich konnte mir alles sehr plastisch vorstellen. Die Figuren sind für mich zum Leben erwacht, und ein paar Mal habe ich mich dabei ertappt, langsamer zu lesen, damit ich nicht so schnell ans Ende komme. Auch in den - teilweise sehr schlimmen - Szenen ist es der Autorin zumindest für uns Leser gelungen, nie die Hoffnung auf ein gutes Ende zu verlieren, auch wenn Merle selbst das vermutlich jeweils ganz anders gesehen hat.
Diese positive Grundeinstellung ist für mich mit das Beste am Buch, weil es so auch in düsteren Augenblicken Hoffnung zu vermitteln vermag. Das Thema Religion und Glaube ist für meine Begriffe dermaßen gut integriert und normal dargestellt (auch bzw. gerade für heutige Verhältnisse), daß es gar nicht groß auffiel, daß der Glaube im Buch eine Rolle spielt. So, wie es hier beschreiben wurde, ist es einfach ein Teil des normalen Alltags, und gerade darum sehr realitätsnah.
Als ich das Buch beendet hatte, habe ich es trotz der teilweise sehr heftigen Szenen und Vorkommnisse, so beendet, wie ich das bei einem guten Buch schätze: innerlich gleichzeitig ruhig und doch bewegt im Bewußtsein, daß ich noch lange an Merle, Simi, Johannes und wie sie alle hießen, denken werde. Und mit absoluter Sicherheit, egal wie das Cover aussieht, das nächste Buch der Autorin (das hoffentlich nicht lange auf sich warten läßt) lesen werde.