Eckstein der Brucknerinterpretation - besseres Remastering in den drei großen Korea-Boxen!
Georg Solti und das Chicago Symphony Orchestra – das ist eine ca. 30 Jahre währende Erfolgsgeschichte, die in vielen Schallplatten-Einspielungen dokumentiert ist. Bis auf das Verdi-Requiem (RCA) sind alle diese Platten beim Label Decca entstanden, dem Solti Zeit seines Lebens treu blieb.
Solti ist als Dirigent nicht unumstritten: Unbestreitbaren Vorzügen wie Stringenz, Kraft, Strukturbewusstsein und Klarheit (viele davon erreichen aber per se seine hervorragenden Orchester in London und besonders das CSO) stehen einer gewissen Fahrigkeit, Grobheit und manchmal auch wenig Poesie und Klangsinn (Streicher!) gegenüber.
Decca unterstreicht in seiner Klangphilosophie einer eher direkten Tonabnahme mit vielen Mikrophonen noch zusätzlich das tendenziell Harte und Spitze seines Dirigats.
SOLTI UND BRUCKNER – INTERESSANTES FÜR FANS UND KENNER
Solti fand erst relativ spät zu Bruckner. Mitte der 60ziger ein erster Schallplattenversuch mit der 7ten und 8ten mit den Wiener Philharmoniker, dann erst wieder auf Platte (grade noch analog) die 6te mit Chicago Symphony Orchestra von 1979!
Von 1965 existiert eine traumhafte Aufführung der 7ten als Gastdirigat bei dem CSO, ebenso mit diesem dann „seinem“ Orchester von 1978 live und unveröffentlicht die 7te aus Berlin, und nochmals die 7te live mit dem CSO aus der Royal Albert Hall (auf DVD). Die 6te gibt es ebenso aus der Orchestra Hall Chicago live von 1979 auf DVD.
De weiteren existiert beim Rundfunk eine unveröffentlichte großartige live 5te (Gastspiel in NY – in Anwesenheit von Johannes Paul II) - und ebenfalls unveröffentlicht - die 7te von einem Gastspiel in Berlin anlässlich einer Europa-Tournee des CSO.
Aus gleichem Anlass mitgeschnitten (und nicht veröffentlicht) wurden zwei Aufführungen der 4ten aus Salzburg – 1980 (als private VÖ bei sardana) und 1981.
Ich selbst habe auf DAT 1993 die Dritte in Salzburg mitgeschnitten …
WANDLUNGEN UND ECKSTEIN
Soltis Beschäftigung mit Bruckner war also spätestens ab Ende der 70ziger intensiv und sein Interpretationsansatz entwickelte sich bis zu seinen letzten Aufführungen auch stetig. Ob einem diese Wandlung gefällt oder nicht – jedenfalls haben wir so eine Erste, „Annullierte“ und Zweite in einer zupackenden und dramatischen Sicht, wie sie – abgesehen von Volkmar Andreae - wohl kein anderer Dirigent je gewagt (oder gewollt) hat. Deshalb verwendete ich das Wort „Eckstein“, da es in diese Richtung tatsächlich nicht mehr weiter geht …
Die Dritte ist m.E. in diesem aggressiven Ton misslungen, auch die Tontechnik hat hier leider keinen guten Tag gehabt.
Die Achte ist eine echte Alternative. Die Vierte, Fünfte, Siebte und Neunte sind konventioneller interpretiert, aber ebenso mit klarer Struktur, die Sechste ist m.E. hervorragend gelungen.
DIE VERWENDETEN FASSUNGEN UND AUFNAHMEDATEN
Hier sind die Fassungen mit den Aufnahmedaten (präziser als im Textheft!):
Sinfonie Nr. 1 c-moll WAB 101 („Linzer“ Fassung, überarbeitet 1877, Ed.: L.Nowak 1953)
G. Solti / Chicago Symphony Orchestra (Decca / Febr.1995 Orchestra Hall Chicago)
Sinfonie d-moll „Annullierte“ WAB 100 (1869, Ed.: L.Nowak 1968)
G. Solti / Chicago Symphony Orchestra (Decca / live Okt.1985 Orchestra Hall Chicago)
Sinfonie Nr. 2 c-moll WAB 102 (revidierte Fassung 1877, zweiter Druck: L.Novak 1965)
G. Solti / Chicago Symphony Orchestra (Decca / Okt.1991 Orchestra Hall Chicago)
Sinfonie Nr. 3 d-moll WAB 103 (Fassung 1877, Ed.: L.Nowak 1981 - Scherzo mit Coda)
G. Solti / Chicago Symphony Orchestra (Decca / Nov.1992 Orchestra Hall Chicago)
Sinfonie Nr. 4 Es-Dur „Romantische“ WAB 104 (1886 <1878/80>, Ed.: L.Nowak 1953)
G. Solti / Chicago Symphony Orchestra (Decca / 27.1.1981 Orchestra Hall Chicago)
Sinfonie Nr. 5 B-Dur WAB 105 (Fassung 1878, Ed.: L.Nowak 1951 fast identisch mit Haas-Ausgabe)
G. Solti / Chicago Symphony Orchestra (Decca / Jan.1980 Medinah Temple Chicago)
Sinfonie Nr. 6 A-Dur WAB 106 (Fassung 1881, Ed.: L.Nowak 1952)
G. Solti / Chicago Symphony Orchestra (Decca / Juni 1979 Medinah Temple Chicago)
Sinfonie Nr. 7 E-Dur WAB 107 (Fassung 1885, Ed.: L.Nowak 1954)
G. Solti / Chicago Symphony Orchestra (Decca / Okt.1986 Medinah Temple Chicago)
Sinfonie Nr. 8 c-moll WAB 108 (Fassung 1890, Ed.: L.Nowak 1955)
G. Solti / Chicago Symphony Orchestra (Decca / Nov.1990 St.Petersburg)
Sinfonie Nr. 9 d-moll WAB 109 (Originalfassung 1894, Ed.: L.Nowak 1951)
G. Solti / Chicago Symphony Orchestra (Decca / Sept.+Okt.1985 Orchestra Hall Chicago)
KLANG UND EDITORISCHES
In der Einleitung habe ich schon manches Zum Decca-Klang und Solti gesagt. Die Streicher klingen auf diesen CDs manchmal etwas „vereinzelt“ oder dünn, das Blech (wie schon von anderen moniert) manchmal hart und äußerst direkt. Der Raumklang ist meist sehr schwach abgebildet.
Alles diese Mankos sind zwar den Aufnahmen selbst inhärent, werden aber durch diesen Digital-Transfer hier nochmal verstärkt. Im Anhang versuche ich zu beschreiben, was bei den Koreanischen VÖs da deutlich besser gelungen ist.
Die Box ist sehr stabil, die Aufmachung schlicht. Die einzelnen CDs stecken in Papierhüllen, die auf der Rückseite Werkangaben, Tracks und Gesamtspielzeit, aber keine Aufnahme-Daten zieren.
Es gibt 11 Seiten deutschen Text mit ausführlicheren Angaben zu allen Sinfonien. Was mir persönlich sehr gefällt ist, dass die Stellung (im doppelten Sinne!) der „Annullierten“ zwischen der Ersten und Zweiten nun richtig platziert wurde.
Die Fünfte ist leider unnötiger Weise (Spielzeit 79:30 min) auf zwei CDs verteilt worden. Das Textheft beinhaltet alle Daten zur Aufnahme wie Techniker, Ort und Datum (Monat).
FAZIT
Soltis Bruckner ist m.E. eine unverzichtbare frische Sicht (mit einer fast überall herausragenden Orchesterleistung) auf den österreichischen Meister, wenn auch nicht unproblematisch. Vieles ist sehr gelungen und wer die live-Aufnahmen nicht kennt (ist wohl kaum jemand!), der wird auch von der 4ten, 5ten, 6ten, und 7ten absolut überzeugt sein. Ich hoffe schon lange sehr darauf, die angesprochenen unveröffentlichten Mitschnitte mal offiziell herausgegeben und ordentlich remastert hören zu dürfen.
Die hier besprochene Box ist mit 30 bis 40 Euro allemal ihr Geld wert – auch wenn es bezüglich Remastering eine Alternative gibt. Dazu nun mehr:
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A N H A N G
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DIE ALTERNATIVE: FÜR SNOBS ODER ABSOLUT VERRÜCKTE *g*
Wer die Sinfonien Bruckners in optimalen Masterings hören möchte, der hat derzeit nur die Möglichkeit die drei in Korea veröffentlichten SOLTISSIMO-Boxen (Vol 2, 3 und 4) zu kaufen. Das ist eine echte Investition (knapp 150 CDs), die ihr Geld für den Verehrer von Soltis Kunst, der des CSO (vielleicht auch des LPO) aber in mehrerer Hinsicht wert ist:
Es gibt hier alle sinfonischen Aufnahmen Soltis seit 1970, darunter den ganzen Beethoven (zweimal – analog und ca. 15 Jahre später digital) Brahms, Bruckner und Mahler mit dem CSO. Zudem Viel Haydn und Elgar mit dem LPO.
Die Remasterings der analogen und digitalen (das scheint möglich!) Aufnahmen sind deutlich besser als bei allen vorausgegangenen Veröffentlichungen von Decca – dazu unten mehr.
Wer Solti (und die originalen Cover und Zusammenstellungen der Platten) liebt, der kommt hier natürlich insgesamt am „platzsparendsten“ davon *g*
Die Box „Soltissimo 2“ ist den analogen Aufnahmen 1970 bis 1979 gewidmet, „Soltissimo 3“ den digitalen Einspielungen von 1980 bis 1989 und „Soltissimo 4“ den restlichen von 1990 bis 1997. Alle drei bisher erschienenen Boxen enthalten ca. zwei Drittel CSO-Aufnahmen und ein Drittel andere, zumeist Londoner Produktionen.
„Soltissimo 2“ ist meine Erachtens ein unbedingtes Muss für Menschen, die auf die ganz besondere Orchesterqualität des CSO hören. 90% der Analog-Digital-Transfers sind deutlich besser als das, was man von Decca und Europa und USA zu hören bekam. Zudem sind die Aufführungen die Spannendsten, das kann man im Groben so durchaus sagen.
Hier die Zusammenstellung, was Bruckner anbetrifft – zudem in der chronologischen Reihenfolge der Aufnahmen:
SOLTISSIMO 2 (58 CDs): 6te*****
SOLTISSIMO 3 (57 CDs): 5te***, 4te****, 9te****, 7te****
SOLTISSIMO 4 (39 CDs): 8te***, 2te****, 3te**, 1te,****
DAS BESONDERE DER NEUEN DIGITAL-DIGITAL-TRANSFERS der Boxen „Soltissimo 3“ und „Soltissimo 4“
Was ich in dieser Deutlichkeit nicht für möglich gehalten hätte: Auch wenn die Originale ja allesamt schon digital sind, so unterscheiden sich die Hörergebnisse der hier besprochenen koreanischen Transfers zumeist deutlich von allen anderen erhältlichen Ausgaben in Europa und USA.
Ich habe ja eben die Aufnahmetechnik / Philosophie von Decca angesprochen, welche tendenziell eher isolierte Schall-Ereignisse zeigt und weniger ein homogenes Ganzes. Dies ist bei den koreanischen Transfers oftmals angenehm abgemildert. Es ist auffällig mehr Raumtiefe zu hören, welche schon per se einen homogeneren Klang erzeugt. Der Klangeindruck ist dunkler (Decca-Aufnahmen klingen ja im Mitten- und Höhenbereich sehr hell) und die hohen Streichen klingen runder und mehr als Klangkörper, nicht als wenige einzelne Geigen. Das halte ich für eine große Verbesserung der Aufnahmen - erreicht durch bessere Auflösung oder was auch immer… Übrigens sind auch die Bässe klarer und stabiler.
Das kann natürlich nicht verhindern, dass an sich schon schlecht klingende Aufnahmen auch hier schlecht klingen - z.B. die Bruckner Dritte.
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