Gut und doch nicht ganz dem Mythos entsprechend - Mastering nicht optimal
Der Name Wand ist in der breiten musikalischen Öffentlichkeit 'erst' in den 80ziger Jahren angekommen. Das ERST deshalb in Anführungszeichen, weil dieser Dirigent eigentlich schon seit der 50ziger Jahre hätte bekannt sein sollen. Günter Wand (1912-2002) war aber ein sehr bescheidener Musiker, den nur die Arbeit am Werk, aber nicht - salopp gesagt - der 'Rummel drum herum' interessiert hat.
Wands erster Bruckner-Zyklus (eigentlich sein einziger, da die ersten zwei Sinfonien nicht nochmals eingespielt hat) entstand in der Jahren von 1974 bis 1981. Hier im Detail, mit genaueren Angaben als bei der neuen CD-Box (2010):
DIE VERWENDETEN FASSUNGEN UND PRÄZISE AUFNAHMEDATEN
Sinfonie Nr. 1 c-moll WAB 101 ('Wiener' Fass.1891, Bruckners eigene Revision, Ed.: G.Brosche 1980)
G. Wand / Kölner RSO (WDR-S.O.) (RCA - HM / 11.12.1981 Sendesaal Köln)
Sinfonie Nr. 2 c-moll WAB 102 (Haas-Fassung 1938: Grundlage 1877-Fass. mit Teilen der 1872-Fass.)
G. Wand / Kölner RSO (WDR-S.O.) (RCA - HM / 5.12.1981 Sendesaal Köln)
Sinfonie Nr. 3 d-moll WAB 103 (Fassung 1889 <1888/89>, Ed.: L.Nowak 1959)
G. Wand / Kölner RSO (WDR-S.O.) (RCA - HM / 17.1.1981 Sendesaal Köln)
Sinfonie Nr. 4 Es-Dur 'Romantische' WAB 104 (1881 <1878/80>, Ed.: R.Haas 1936)
G. Wand / Kölner RSO (WDR-S.O.) (RCA - HM / 10.12.1976 Sendesaal Köln)
Sinfonie Nr. 5 B-Dur WAB 105 (Fassung 1878, Ed.: R.Haas 1935 fast identisch mit Nowak-Ausgabe)
G. Wand / Kölner RSO (WDR-S.O.) (RCA - HM / 7.7.1974 Sendesaal Köln)
Sinfonie Nr. 6 A-Dur WAB 106 (Fassung 1881, Ed.: L.Nowak 1952)
G. Wand / Kölner RSO (WDR-S.O.) (RCA - HM / 25.8.1976 Sendesaal Köln)
Sinfonie Nr. 7 E-Dur WAB 107 (Originalfassung 1885, Ed.: R.Haas 1944)
G. Wand / Kölner RSO (WDR-S.O.) (RCA - HM / 18.1.1980 Sendesaal Köln)
Sinfonie Nr. 8 c-moll WAB 108 (Mischfassung 1887/90, Ed.: R.Haas 1939)
G. Wand / Kölner RSO (WDR-S.O.) (RCA - HM / 28.5.+2.6.1979 Sendesaal Köln)
Sinfonie Nr. 9 d-moll WAB 109 (Originalfassung 1894, Ed.: L.Nowak 1951)
G. Wand / Kölner RSO (WDR-S.O.) (RCA - HM / 10.6.1979 Sendesaal Köln)
TEMPI
Wands Bruckner aus Köln ist durchaus zügig, aber nicht schnell oder verhetzt. Interessant ist der Spielzeiten-Vergleich mit dem zeitgleich entstandenen zweiten Zyklus von Jochum bei der EMI. Jochum galt und gilt immer noch als ein Dirigent, der bei Bruckner das 'Weihevolle' betonte und breite Tempi nahm - für mich beides ein kolportierter Mythos:
SPIELZEIT-VERGLEICH VON WAND (RCA/HM) UND JOCHUM (EMI)
Wand / Kölner RSO (RCA/HM) -- Jochum / Staatskapelle Dresden (EMI-Zyklus)
1te 48:15 min - 47:05 min
2te 58:57 min - 52:38 min
3te 55:05 min - 55:13 min
4te 64:22 min - 65:05 min
5te 74:38 min - 77:28 min
6te 53:27 min - 56:21 min
7te 64:50 min - 69:27 min
8te 76:05 min - 81:47 min
9te 58:26 min - 61:00 min
Interessant finde ich, dass Wand im Vergleich eher breit beginnt und zu den späteren Sinfonien hin gegenüber Jochum schneller wird (Ausnahme ist die Achte). Das sind aber Zahlen, die nur bedingt etwas über den Höreindruck aussagen.
HISTORISCHE BEDEUTUNG
Wie Jochums zwei Zyklen (besonders der erste der DG) liegt die Bedeutung des Zyklus mit Wand auch im Historischen. Es waren die einzigen deutschen Gesamtaufnahmen und ansonsten gab es auch nur Haitink mit Concertgebouworkest bei Philips. Die Sicht aller drei Dirigenten war - bei jedem auf seine Weise - modern und in sich geschlossen. Auch Klemperer, Schuricht und andere pflegten schon ein unromantisches Bruckner-Bild, aber man empfand sie noch als Dirigenten des Wandels und zudem spielten sie nicht alle Sinfonien ein. Die Zyklen von Inbal und Karajan kamen erst ein paar Jahre später und da war auch schon der Zauber des 'Neuen' vergangen. Inbal setzte als erster Dirigent einer ganz neuen Generation von Brucknerdirigenten sowieso in ganz anderer Weise einen Akzent: mit den Erstfassungen der Dritten, Vierten und Achten ' und einer ersten fertig gestellten Aufführungsversion des Finales der Neunten.
TENDENZEN DER INTERPRETATION
Wand sieht Bruckner als Sinfoniker. Punkt. Damit ist eigentlich schon das meiste gesagt. Alle 'Zusätze' waren für ihn 'Firlefanz'. Die Sichtweise eines Celibidache, Thielemann oder Tintner sind quasi das andere Ende der Wurst (wobei diese dann einige Enden haben müsste). Struktur, Linie, Zusammenhänge, der große Bogen, investive und auch dramatische Interpretation - das war sein Credo! Und das in ausgewogenen und eher zügigen Tempi'
PRÄFERENZEN
Persönlich würde ich folgende besondere Empfehlungen geben: Die Erste (auch wegen der Wiener Fassung), die Achte (ein Werk, dass Wand besonders lag) und die Neunte (dessen modernen Aspekte Wand besonders herausstellte).
Die Zweite ist gut, hat aber doch auch in dieser Lesart mittlerweile manche Konkurrenz. Warum die Fünfte (die erste Einspielung dieses Zyklus) umgehend den Deutschen Schallplattenpreis erhalten hat, ist mir zumindest vom heutigen Stand aus nicht mehr nachvollziehbar. Eine gute klare und sehr bewusste Einspielung, ein sehr tänzerisches Scherzo ' zweifelsohne. Aber der langsame Satz hat nicht allzu deutliche Gestalt und man spürt im letzten Satz doch sehr die Grenzen der Kraft des Kölner RSO, besonders im Blech, das ein wenig 'plärrt' Möglicherweise ist es das, was manche mit 'scharfem Klang' und 'Bläserüberbetonung' meinen. Es ist aber nicht als der eben etwas unedle Klang dieser Gruppe bei besonders anstrengenden Stellen.
Ich werde jetzt nochmal intensiv die 3te, 4te, 6te und 7te hören und evtl. Infos / Empfehlungen nachreichen.
PARTITURTREUE
Wand wird ein äußerst genauer Umgang mit der Partitur und den darin enthaltenen Spielanweisungen nachgesagt, was auch durchaus zutrifft. Dennoch bergen auch Wand Interpretationen durchaus Eigenwilligkeiten - meist in zusätzlichen dynamischen Veränderungen oder Zusätzen, um die Dramatik der Musik zu steigern. Hier möchte ich nur zwei Beispiele anhand des kurzen Scherzos der zweiten Sinfonie anführen, welche leicht aufzufinden und auch ohne Partiturstudium gut zu hören sind:
Sinfonie Nr. 2, Scherzo Takt 46-47 ein starkes dem laufenden ForteFortissimo aufgesetztes zusätzliches Crescendo, Takt 73-74 ein starkes cresc. und decresc. in der von Bruckner nur mit Piano angegeben Dynamik.
AUFNAHMETECHNIK
Die Aufnahmen wurden vom WDR gemacht von der Harmonia Mundia als LP (und später als Sublabel der EMI als CD) veröffentlicht, dann wurde die Harmonia Mundi von der RCA übernommen und die Wand Einspielungen aus Köln fanden auf CD eine weitere Verbreitung (weiße und dann grüne Box). Mittlerweile ist die RCA von der Sony geschluckt, welche den Bruckner-Zyklus von Wand nochmals überarbeitete - und m.E. wie alle anderen Ausgaben der Billigreihe 'Masters' 'verschlimmbessert'.
Die Aufnahmen an sich sind sehr ordentlich. Ich kann die Kritik mancher Rezensenten nicht nachvollziehen, die hier zu weit hervorgehobene Blechbläser oder eine übermäßige Schärfe des Klangs hören. So klang halt das Kölner RSO ' Vielleicht ist auch der eine oder andere von der 'flauschigen' Filterei vieler Digitalaufnahmen verdorben. Ich dachte die Karajan-Zeiten seien vorbei ' aber anscheinend kehrt alles wieder: Aufrüstung, Drachme, 'Watte-Klassik' '
Ich höre auch keine Digitalisierungseffekte bei der grünen Box ' welche ich persönlich unbedingt favorisiere.
VERGLEICH DER DREI VERÖFFENTLICHUNGEN DIESES ZYKLUS
Der Vergleich der Ausgaben ist wichtig als Orientierung für den Käufer:
Für Käufer, die ein weiches, ganz leicht verhangenes und etwas distanzierteres Klangbild wünschen, ist die weiße Box der Erstausgabe auf CD (1989) zu empfehlen (ASIN: B000026PLM). Alle Sinfonien (10 CDs) sind je auf einer CD ' außer der auf zwei CD verteilten Achten.
Mit Textheften, in einzelnen Jewelscases und Pappschuber.
Für Käufer, die es sehr klar und farbig möchten mir guter Ortung der Instrumente, aber auch etwas 'aggressiverem' Klang (welcher wohl dem aufgenommenen Orchester genau entspricht), der sollte die grüne Box (2002) nehmen ' leider nur noch relativ teuer (in Deutschland über 60.- Euro) zu haben (ASIN: B000063X5K). Alle Sinfonien (9 CDs) sind auf einer CD, außer der Achten, die hier zusammen mit der Neunten auf eine Doppel-CD verteilt ist.
Mit Textheften, in einzelnen Jewelscases und Pappschuber.
Wer weniger Geld ausgeben möchte und sich nicht an einem etwas sehr direkten Klangbild stört, der kann ruhig bei der sehr günstigen aktuellen Ausgabe (2010) zugreifen (ASIN: B0042U2HLY)
Ohne Texte, in schmaler Pappbox, 9 CDs in Papphüllen. Eine eher 'billige' Aufmachung
FAZIT
Günter Wands (einziger) kompletter Zyklus der Brucknersinfonien ist - wie so vieles - eine Frage des persönlichen Geschmacks, der Platzes (bei der weißen Box), des Geldbeutels (bei der grünen Box) und der Notwendigkeit.
Ich persönlich liebe den Zugang zu einem Werk über viele verschiedene Interpretationen - und da ist Wand bei den Zyklen ebenso ein 'Eckstein' wie Jochum, Skrowaczewski oder Tintner.
Wer das Wesen jedes einzelnen der Werke mit langem Atem und intuitiv finden möchte, der kann es auch Stück für Stück mit sehr verschiedenen Einzelaufnahmen versuchen. Wand Sicht ist sehr absolut sinfonisch, durchaus modern, klar - und manchmal etwas direkt und nüchtern. Das ist per se weder gut noch schlecht, sondern eben EINE mögliche Sichtweise.
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Über ein Feedback (Bewertung JA oder NEIN, Kommentar - wie und welcher Art entscheiden natürlich SIE!) zu meinen Bemühungen des Rezensierens würde ich mich freuen! Lesen Sie gern auch andere meiner weit über 200 Klassik-Besprechungen mit Schwerpunkt "romantische Orchestermusik" (viel Bruckner und Mahler), "wenig bekannte nationale Komponisten" (z.B. aus Skandinavien), "historische Aufnahmen" und immer wieder Interpretationsvergleiche und für den Kenner bzw. Interessierten meist Anmerkungen zum Remastering!